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Mensch mit Maschine

Ronny Blaschke15. September 2016

Die Paralympics sind auch eine Messe für Materialforschung. Erfolgreich sind in der Regel jene Länder, die gute Orthopädie-Techniker haben - und viel Geld.

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Der Luxemburger Tom Habscheid geht mit seiner Prothese und einer Ersatzprothese in der Hand zum Wettkampf (Foto: Reuters/J. Cairnduff)
Bild: Reuters/J. Cairnduff

Mit schwarzem Basecap sitzt Heinrich Popow auf der Tribüne des Olympiastadions von Rio de Janeiro und blickt auf die Tartanbahn. Wenn er selbst nicht springt oder läuft, unterstützt er seine Kollegen aus dem deutschen Team. In der Reihe davor steht ein junger Leichtathlet, er rutscht mit seiner Prothese zwei Treppenstufen herunter, fast fällt er auf den Beton. "Sperre reinmachen", ruft Popow und lächelt. "Dann bleibst du stehen."

Heinrich Popow weiß Bescheid. Auch seine Sportprothese ist eine Maßanfertigung, ein hydraulisches Metallknie und eine schwarze Karbonfeder, entworfen am Computer, verfeinert mit dutzenden Anpassungen. "Wenn im entscheidenden Wettkampf die Prothese nicht funktioniert, nützt das jahrlange Training gar nichts", sagt der 33-Jährige. "Deshalb zählt bei uns jedes Detail."

77 Techniker und 18 Tonnen Material

Mensch und Maschine. Wenige Athleten verdeutlichen dieses Spannungsverhältnis so sehr wie Heinrich Popow. Bei den Paralympics in London 2012 gewann er Gold über 100 Meter. Nun in Rio ging er als Favorit in den Weitsprung-Wettbewerb und sicherte sich die Goldmedaille mit paralympischem Rekord. Unter den rund 4300 Teilnehmern aus mehr als 170 Nationen ist er natürlich einer der bekanntesten Sportler, und doch haben sie alle etwas gemeinsam: Sie brauchen Ausdauer, Kraft - und gutes Material.

So führte Popows erster Weg im paralympischen Dorf in die Werkstätten. 77 Techniker aus 26 Ländern sorgen in Rio dafür, dass die Sportler möglichst ohne Pannen durch ihre Wettkämpfe kommen. Schon im Mai wurden 18 Tonnen Material nach Brasilien verschifft, mit 15.000 Einzelteilen.

"Modernes Material allein reicht nicht"

Der Orthopädie-Techniker Georg Hoffmann arbeitet an einer Bein-Prothese (Foto: picture-alliance/dpa/J. Büttner)
Ein Orthopädie-Techniker der Firma Otto Bock in RioBild: picture-alliance/dpa/J. Büttner

Verantwortlich für die paralympischen Werkstätten ist seit 1988 das Unternehmen Otto Bock. Der Weltmarktführer für Prothetik hat seinen Sitz im niedersächsischen Duderstadt. Noch in den siebziger Jahren waren Prothesen schwerfällige Konstruktionen aus Holz. Der US-amerikanische Ingenieur Van Phillips brachte die Entwicklung voran. Phillips beobachtete, wie die C-förmigen Hinterbeine von Geparden nach vorn schießen. Er suchte ein leichtes, robustes Material, wählte schließlich Kohlenstofffasern, häufig genutzt in der Luftfahrt. Das Resultat: Die Laufprothese der Zukunft.

Die Form hat sich nicht wesentlich geändert, die Details schon. Die Konstruktion ist auf Gewicht und Laufstil des Athleten abgestimmt. Heinrich Popow ist oft in Duderstadt, um Veränderungen zu diskutieren. Nach einer Zunahme von Muskeln muss auch die Prothese angepasst werden. Das Bindeglied aus Körper und Technik besteht aus einer Silikonummantelung und Ventilen. "Modernes Material allein reicht nicht", sagt Popow. "Man muss es auch richtig einsetzen."

Tumor in der linken Wade

Als Botschafter von Otto Bock ist er weltweit unterwegs, um Menschen mit Amputationen Zuversicht zu vermitteln. Zuletzt in Kuba traf er Sportler, deren Prothesen falsch am Körper angebracht waren, die Folge: blutige Verletzungen. "Als ob man Usain Bolt Schuhe gibt, die drei Nummern zu groß sind. Dann läuft der auch keinen Weltrekord." Bei den Paralympics sind in der Regel jene Länder erfolgreich, in denen der Beruf des Orthopädietechnikers anerkannt ist. Popow absolviert selbst diese Ausbildung. Einige seiner Kollegen haben sie bereits hinter sich.

Paralympics 2012 in London: Heinrich Popow (2.v.l.) überquert beim 100-Meter-Finale die Ziellinie und gewinnt Gold (Foto: picture-alliance/dpa/K. Okten)
Paralympics 2012 in London: Heinrich Popow (2.v.l.) überquert beim 100-Meter-Finale die Ziellinie und gewinnt GoldBild: picture-alliance/dpa/K. Okten

Heinrich Popow, der Wurzeln in Kasachstan hat, war neun Jahre alt, als Ärzte in seiner linken Wade einen Tumor entdeckten. Noch vor der Amputation des Beines stattete ihm der paralympische Radrennfahrer Arno Becker im Krankenhaus einen Besuch ab. Popow wollte sich schon wegdrehen, da zog Becker sein Hosenbein hoch und zeigte ihm seine Prothese. Er versprach, dass Popow einen normalen Alltag führen könne, er müsse sich nur besonders anstrengen.

Machen längere Prothesen schneller?

Dabei ist die Sportprothese etwas schlichter entwickelt. Die Alltagsprothese verfügt über einen Mikroprozessor, der das Knie auf das Fußgelenk abstimmt und mit Hilfe von Sensoren die Sturzgefahr verringert. Dieses sogenannte C-Leg lässt sich per Knopfdruck auf einen Radfahrmodus umstellen. Eine solche Computertechnik ist im paralympischen Sport untersagt. Die Einzelteile müssen für alle Athleten auf dem Markt erhältlich sein.

Doch gerade an dieser Regel entzünden sich viele Debatten. 2012 wurde Popow in London mit Vorwürfen eines deutschen Teamkollegen konfrontiert: Wojtek Czyz sprach von Technodoping. Er behauptete, dass ein spezielles Kniegelenk nur Popow zur Verfügung gestanden habe. Belege hatte er nicht. In anderer Form wird seit Monaten über Markus Rehm diskutiert. Der unterschenkelamputierte Weitspringer kämpfte vergeblich für einen Start bei Olympia. Kann Rehm mit einer Prothese besser sein als seine nichtbehinderten Gegner? Machen sich manche Läufer durch längere Prothesen größer und schneller? Tritt an die Stelle des Trainings ein Wettrüsten?

Sportliche Erkenntnisse für den Alltag

Josh Brewer aus den USA (l.) und Christophe Salegui aus Frankreich in Aktion beim Rollstuhl Rugby in Rio (Foto: Reuters/P. Olivares)
Rollstuhl-Rugby: Die Maschinen werden immer perfekterBild: Reuters/P. Olivares

Medien finden Gefallen an diesen Fragen, doch wirkliche Belege dafür gibt es nicht. Der Ausnahmekönner Rehm ist nicht repräsentativ für die Paralympioniken. "Es ist verkürzt, den Sport auf das Material zu reduzieren", sagt Thomas Abel, Behindertensportexperte an der Sporthochschule Köln. "Am Ende läuft und springt immer ein Mensch." Und für die Prothesenhersteller ist der Leistungssport ein kleiner Markt: auf 150 Prothesen im Sport kommen 150.000 für den Alltag.

Der Forschung geht es vor allem darum, Erkenntnisse in den Alltag zu überführen. Thomas Abel ist auf diesem Feld seit Jahren mit seinen Studierenden aktiv. Früher wogen Rollstühle für Basketball fast 25 Kilogramm. Dann wurden Holz und Stahl durch Titan und Grafit ersetzt, Mikrochips verbesserten die Balance und Stabilität. Einige Teams nutzten eine Software, mit der auch in der Formel 1 gearbeitet wird. So wurden auch die Alltagsrollstühle leichter und wendiger.

Von einer Milliarde Menschen mit einer Behinderung leben laut der Weltgesundheitsorganisation achtzig Prozent in Entwicklungsländern. Doch bei den Paralympics kommen 46 Prozent aller Teilnehmer aus zehn wohlhabenden Ländern. 33 Nationen sind nur mit einem Sportler vertreten. Die große Mehrheit kann sich keine High-Tech-Prothesen leisten. Denn die kosten manchmal so viel wie ein Auto.