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PolitikAsien

Myanmar: Deserteure berichten über das Leben in der Armee

Naomi Conrad | Julia Bayer
19. Mai 2021

Myanmars mächtiges Militär kontrolliert das Leben seiner Soldaten umfassend. Deserteure zahlen einen hohen Preis. Die DW sprach mit drei Männern auf der Flucht.

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Myanmar Soldaten
Die Armee Myanmars, im eigenen Land Tatmadaw genannt, ist die elftgrößte der WeltBild: Getty Images/AFP/Lynn Bo Bo

Als seine Kameraden auf unbewaffnete Zivilisten, sogar Kinder, schossen, da wusste der junge Soldat: Er konnte der Armee nicht länger dienen - auch wenn das hieß, seine Familie zurückzulassen, sich nicht einmal von ihr zu verabschieden, aus Angst, sie sonst zu gefährden. Die Flucht führte den Leutnant über kleine Straßen und Pfade - erst mit dem Motorrad und dann zu Fuß. Dorfbewohner halfen ihm über die Grenze. 

Er ist einer von drei Fahnenflüchtigen, mit denen die DW in den letzten Wochen im intensiven Kontakt stand. Fast täglich wurden Text-, Audio- und Video-Nachrichten über Messenger-Apps ausgetauscht, wenn das Internet es zuließ. Dazu einzelne Telefonate. Der junge Leutnant hält sich in Indien versteckt. Die anderen zwei, beide hochrangige Offiziere, sind in Myanmar untergetaucht und ziehen von einem Unterschlupf zum nächsten.

Ihre Berichte geben einen seltenen Einblick in eine ansonsten verschlossene Institution - und sie zeigen die strikte Kontrolle der Armeeführung über das Leben, die Gedanken und die Finanzen der Soldaten. 

Die DW war nicht in der Lage, alle Aussagen der Befragten zu verifizieren, aber die getrennt geführten Interviews stimmen in wichtigen Punkten überein. Zwei der Deserteure zeigten den Reporterinnen ihre Militärausweise.

Aus Angst um ihre Sicherheit und die ihrer Familien hält die DW die Identität der drei befragten Soldaten geheim.

Myanmar Nach dem Militärputsch
Seit Februar demonstrieren Zivilisten gegen den Militärputsch Bild: dpa/AP/picture alliance

Jeder Facebook-Post wird überwacht

Die Männer beschreiben übereinstimmend ein abgeschottetes, streng kontrolliertes Leben auf Armeestützpunkten, die man nur mit ausdrücklicher Erlaubnis verlassen dürfe. Dort sei es an der Tagesordnung, dass die Frauen der einfachen Soldaten ohne Gehalt für Offiziersfamilien putzen.

Nach den Schilderungen der Männer diktiert die Militärführung den Soldaten und ihren Familien, wie sie sich zu kleiden haben, was sie sagen dürfen, woran sie glauben sollen und sogar, wie sie ihr Haus zu dekorieren haben. "Sie können deinen Wohnraum jederzeit kontrollieren", betont einer der drei. 

"Alles wird überwacht," sagt ein anderer Deserteur. "Sie wollen die Menschen zu Robotern machen, die nicht (selbst) denken."

Ein auf Facebook spezialisiertes Überwachungsteam innerhalb der Armee, so berichten alle drei übereinstimmend, kontrolliere die Social-Media-Aktivitäten der Soldaten und ihrer Familien und überprüfe jedes einzelne Like, jeden Share und jeden Post. Soldaten, sagt ein Deserteur, müssten sogar ihre Anmeldedaten für Facebook herausgeben. Wer kritisch poste, werde mit Gefängnis bestraft oder bei Beförderungen übergangen.

Ein Mann erinnert sich daran, wie er vor einigen Jahren an einem Trainingskurs teilnahm, in dem Offizieren gezeigt wurde, wie man mit Hilfe russischer und chinesischer Technologie Videoüberwachungsanlagen anzapft und Telefongespräche abhört. Zum Ausmaß der Überwachung durch das Militär konnte er keine Angaben machen.

Antimuslimische Propaganda

Nach Angaben der drei befragten Deserteure sind die Soldaten ständiger Propaganda ausgesetzt. Demnach ist das Militär die Hüterin der umkämpften buddhistischen Nation Myanmar. Die Feinde: "terroristische" Muslime sowie Aung San Suu Kyi und ihre Partei, die National League for Democracy (NLD). Sie alle, so die Weltsicht der Generäle, wollen die Macht an sich reißen.

In Myanmar, einem Staat mit 135 verschiedenen ethnischen Gruppen, in dem etwa 90 Prozent der Bevölkerung dem Buddhismus anhängen, sind Politik und Religion eng miteinander verwoben. Schon seit Jahrzehnten bauen die Generäle der Junta Pagoden und Buddha-Statuen, um ihren Machtanspruch religiös zu legitimieren.

Satellitenbild Myanmar Naypyidaw Militärstützpunkt
Soldaten leben auf Militärstützpunkten wie diesem in NaypyidawBild: Maxar Technologies/AFP

Soldaten, so sagt eine der Quellen, werden einer "Gehirnwäsche" unterzogen, um die Weltanschauung der Armeeführung zu übernehmen. Einer der Fahnenflüchtigen, der wie viele Offiziere aus einer Militärfamilie stammt und auf einem Stützpunkt aufgewachsen ist, gibt zu, dass er bis zum Putsch am 1. Februar die Generäle nie in Frage gestellt hat. Wenn Freunde es wagten, die Armee zu kritisieren, sei er wütend geworden und habe die Junta stets verteidigt.

Tatmadaw ist ein Staat im Staat

In absoluten Zahlen ist die Tatmadaw, wie die Truppe in Myanmar selber heißt, die elftgrößte Armee der Welt. Nach Angaben des International Institute for Strategic Studies waren 2019 mehr als 400.000 Soldaten im aktiven Dienst. Die Berufsarmee ist ein Staat im Staat und seit dem Putsch nun auch ganz formell wieder an der Macht. Richtig abgegeben hatte sie die Kontrolle ohnehin nie. Das hat auch mit der Geschichte zu tun.

Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien 1948 übernahm ab 1962 zum ersten Mal eine Militärjunta die Regierungsgeschäfte in Myanmar. Diese Machtübernahme leitete eine lange Periode der eisernen Herrschaft ein, die durch eine strenge Zensur, die Inhaftierung von Gegnern und internationale Isolation gekennzeichnet war.

2010 ließen die Generäle dann Wahlen zu, die es der Partei von Aung San Suu Kyi erlaubten, eine Regierung zu bilden. Doch das Militär sicherte sich ab: Die Verfassung garantiert ihm 25 Prozent aller Parlamentssitze, was bedeutet, dass die Armee jede Verfassungsänderung blockieren kann.

Auch das Verteidigungs- und das Innenministerium sind trotz einer gewählten Regierung stets in der Hand der Generäle geblieben - die darüber hinaus ein riesiges Netzwerk von Unternehmen aufgebaut haben und eigene Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Gerichte betreiben.

Auf den Punkt: Putsch in Myanmar: Todesstoß für die Demokratie?

Wirtschaftliche Ausbeutung

Der Schlüssel zur Macht des Militärs: die Kontrolle über und die Loyalität seiner Soldaten. Nach Recherchen der DW werden Militärangehörige aller Dienstgrade gezwungen, sich finanziell durch zwei Pflichtprogramme an ihren Arbeitgeber zu binden. Dazu gehört, so berichten es die drei Deserteure, dass die Soldaten eine Lebensversicherung bei der Aung Myint Moh Min Insurance Company Ltd. abschließen müssen. Die Police erneuere sich automatisch alle fünf Jahre - ohne dass die Soldaten die Möglichkeit hätten, sich dagegen zu entscheiden.

Nach Angaben der UN ist der Versicherer wohl eine Tochtergesellschaft eines der beiden Konglomerate des Militärs: der Myanmar Economic Holding (MEC) und der Myanmar Economic Holding Limited (MEHL). Das Unternehmen selbst reagierte nicht auf die Anfragen der DW.

Soldaten werden offenbar auch gezwungen, Einzahlungen an MEC und MEHL zu leisten, die in Aktien umgewandelt werden. Im Gegenzug erhalten sie jedes Jahr eine kleine Dividende, so berichten es die drei Männer.

Die beiden finanziellen Pflichtprogramme sind vermutlich ein lukrativer Weg, um sowohl Einnahmen für das Militär als auch für einzelne Generäle zu generieren - und gleichzeitig Loyalität zu kaufen. Viele hochrangige Offiziere erhalten bei ihrer Pensionierung Posten in den beiden Holdings, ihren Tochtergesellschaften und angeschlossenen Unternehmen. Oder wechseln in die Verwaltung.

Myanmar - Protest
Die Sicherheitskräfte haben tausende verhaftet, darunter Aktivisten und Journalisten Bild: AP/dpa/picture alliance

Jagd auf Überläufer?

Einer der Deserteure betont, dass man eigentlich ein Leben lang Teil des Militär-Systems bleibt, weil Soldaten "die Armee nicht verlassen können".

Theoretisch, so ein anderer, könnte man zwar nach zehn Jahren ein Austrittsschreiben einreichen. "Aber das ist nur Theorie", erklärte er trocken. "In der Praxis ist es nicht einfach, und es dauert drei bis vier Jahre, den Prozess auf den Weg zu bringen." Und selbst dann, fügt er hinzu, sei es nicht selbstverständlich, dass die Armee ihre Soldaten gehen lasse.

Einer der Deserteure hat von einem Kontakt im Hauptquartier erfahren, dass die Führung angeblich eine Liste mit mindestens 300 Abtrünnigen erstellt habe. Es sei, so formuliert er es, "eine Menschenjagd".

Die DW kann diese Behauptung nicht verifizieren, aber angesichts der Tatsache, dass die Behörden eine Fahndungsliste von Aktivisten und Journalisten erstellt haben, die jeden Abend im staatlichen Fernsehen ausgestrahlt wird, ist es wahrscheinlich, dass dasselbe mit Deserteuren geschieht.

Die DW hat die Botschaft von Myanmar in Berlin mit den Vorwürfen konfrontiert, jedoch keine Antwort auf ihre Anfragen erhalten.

Mitarbeit: Rodion Ebbighausen