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Neue Gedenkstätte für NS-Opfer in Wien

Julia Hitz
9. November 2021

Die neue Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte erinnert an die jüdischen Opfer des Holocaust. Ohne einen engagierten Überlebenden hätte es sie wohl nicht gegeben.

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Gedenkmauer für die Opfer der Shoah
Über 64.000 Namen wurden in die Namensmauern eingraviert Bild: Georges Schneider/photonews.at/imago images

Erinnern ist ein stetiger Prozess. Was muss im Gedächtnis bleiben? Und wer ist für die Erinnerung zuständig? Wer entscheidet? Das Holocaust-Gedenken ist Konsens in den meisten EU-Ländern, auch Österreich hat sich seit den 1990er-Jahren dieser Position angenähert - wenn auch unter erheblichen Krümmungen der rechtspopulistischen FPÖ, die von 2000 bis 2005 und 2017 bis 2019 Teil der Regierung war. 

Auch der Entschluss zu der jetzt der Öffentlichkeit zugänglichen Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte fiel in diese Zeit: Im Dezember 2018 gab der Bundeskanzler Sebastian Kurz die Gelder für die Gedenkstätte frei, die Regierung schulterte den Hauptteil, Bundesländer und Spenden steuerten den Rest bei. Die Gedenkstätte ist im Ostarrichi-Park gelegen, zentral in Wien, wenn auch nicht in unmittelbarer Nähe des Parlaments.

Erinnern, gedenken, würdigen

Es ist nicht die erste Gedenkstätte in der österreichischen Hauptstadt Wien: Auf dem Judenplatz steht seit dem Jahr 2000 ein Mahnmal der britischen Künstlerin Rachel Whiteread, ein Beton-Quader, der eine Bibliothek andeutet, mit einer großen Anzahl nach außen gekehrten Büchern - stellvertretend für die 64.000 Lebensgeschichten, die in den Konzentrationslagern brutal beendet wurden. 

Das Mahnmal Aspangbahnhof wurde 2017 eröffnet. Stilisierte Bahngleise erinnern an die über 47.000 von hier Deportierten, von denen nur 1073 überlebten. In der zentralen Synagoge von Wien, dem Stadttempel, erinnern drehbare Schiefertafeln mit den Namen der Getöteten sowie eine abgebrochene Granitsäule an die Vernichtung durch die Nationalsozialisten. 

Say their names

Nun also ein neues Mahnmal: 160 Platten aus indischem Granit, jeweils über zwei Meter hoch, die zusammen eine Ellipse bilden. In der Mitte ein grünes Oval, das zum Innehalten einlädt. Die zuständige Ministerin Karoline Edstadler benennt den bitteren Beigeschmack bei der feierlichen Einweihung gleich selbst: "Eigentlich wäre es die Verantwortung der österreichischen Regierung gewesen, ein solches Denkmal zu iniitieren." 

Gedenkstein für die Opfer der Shoah mit Namen und Geburtsdaten
Die über 64.000 Namen wurden in jahrelanger Arbeit vom DÖW (Dokumentationsarchiv des österreichischen Wiederstands) zusammengetragenBild: Herbert Pfarrerhofer/APA/picturedesk.com/picture alliance

Doch es ist nicht der Regierung, sondern einem Holocaust-Überlebendem zu verdanken, dass dieses Denkmal nun steht: Kurt Yakov Tutter. Auf dem goldgelblichen, sehr haltbaren Granit eingeprägt sind über 64.000 Namen und Geburtsdaten. Wenn es nach dem österreichisch-kanadischen Künstler Tutter geht, sollen sie die Jahrhunderte überdauern. Über zwanzig Jahre lang hat der gebürtige Wiener sich für die Errichtung dieses Mahnmals eingesetzt. Die Einweihung erlebt er mit nun 91 Jahren.

Flucht vor den Nazis

Als 12-Jähriger war Kurt Yakov Tutter dank des Muts seiner Mutter nur knapp den Nazis entkommen. 2018 schilderte er bei einer Pressekonferenz im österreichischen Bundeskanzleramt die Momente, als die Familie mitgenommen werden sollte. 20 Minuten gewährten die zwei Wehrmachtssoldaten seinen Eltern, um die Koffer zu packen, die Mutter reagierte entschlossen und versteckte die Kinder auf dem Dachboden. 

Österreich Shoah-Gedenkmauer | Kurt Yakov Tutter
Kurt Yakov Tutter bei einer Pressekonferenz 2018Bild: Helmut Fohringer/APA/picturedesk.com/picture alliance

"Ihr legt euch auf die Matratze und muckst euch nicht, sagte sie", erinnert Tutter. Sie hätten gehört wie Mutter und Vater verprügelt worden wären, aber weiter eisern über den Verbleib der Kinder schwiegen. Seine Eltern wurden deportiert und in Auschwitz ermordet, er floh mit seiner 5-jährigen Schwester nach Belgien, wo eine Familie die beiden versteckte. Später wanderte Tutter nach Kanada aus. 

Tutter schont die Politik nicht bei seiner Rede, die den Höhepunkt der Einweihungsfeierlichkeiten markiert: Er spricht über das Ringen mit einem Wiener Stadtrat, welcher der Gedenkstätte keinen geeigneten Platz zugestehen wollte, "ein Kasperletheater" sei das gewesen. Er spricht über den Schmerz, den doppelten Schmerz: wrst der Verrat an den jüdischen Österreichern, durch Nachbarn, Freunde; die Bereicherung an den Enteignungen, die massenhafte Verschleppung, Schändung, Ermordung. Und dann der Schmerz über die mangelnde Reue in den Jahren und Jahrzehnten danach. "Wir fanden Groll, dass der Raubzug zuende war, und Spott für die wenigen Überlebenden", so Tutter. "Es hat drei Generationen gedauert, das zu ändern." 

Im Chor europäischer Gedenkstätten 

Wichtig war Tutter die Nennung der Namen, ganz in der Tradition der Halle der Namen in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Dies war in vorherigen Gedenkstätten ausgeblieben. Doch im Laufe der Entwicklung musste sich auch diese Gedenkstätte Kritik gefallen lassen. So werden Opfer der Sinti und Roma nicht namentlich genannt - im Gegensatz zu der im September 2021 eröffneten nationalen Gedenkstätte in den Niederlanden, dem Holocaust.Namenmonument in Amsterdam.

Blinde Flecken 

"Österreich hat lange gebraucht, sich seiner Geschichte zu stellen", konstatiert Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka bei der Eröffnung. Und es bleibt Luft nach oben. Die österreichische Tageszeitung "Der Standard" deckte auf, dass die mit Rohbauarbeiten am Mahnmal beauftragte Firma Mörtingerbau während der NS-Zeit jüdische Zwangsarbeiter beschäftigt haben soll. Während Wien nach den Deportationen im Oktober 1942 offiziell als "judenfrei" erklärt wurde, wurden wenige Monate später ungarische Juden zur Zwangsarbeit nach Österreich geschickt. Mörtingerbau war laut "Standard" eine jener Firmen, die laut historischen Quellen Männer, Frauen und auch Kinder mit der Herstellung von Ziegeln und Trümmerbeseitigung beschäftigten. 

Der damalige Eigentümer Franz Mörtinger war zwar nicht Mitglied der NSDAP, doch der Fall zeigt, dass auch in Österreich Unternehmen in die Pflicht genommen werden, ihre NS-Vergangenheit aufzuarbeiten und offenzulegen, vor allem wenn sie am staatlichen Gedenken mitwirken. 

Antisemitismus und Corona-Leugner

Das Gedenken soll auch der Sensibilisierung gegenüber dem wieder erstarkenden Antisemitismus in Österreich dienen. Die Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) verzeichnete in der ersten Hälfte von 2021 562 antisemitische Vorfälle, so viel wie im gesamten Jahr 2020. Die Corona-Pandemie könne zu diesem Vorschub beigetragen haben, wie antisemitische Insignien auf Demonstrationen von Corona-Leugnern oder auch Vergleiche von Opfern der Nationalsozialisten mit Opfern des behaupteten "Staatsterrors" in der Pandemie nahe legen. Verschwörungstheorien und Antisemitismus sind häufige Paarungen, auch in Deutschland.

Zum großen Gedenkjahr 2018, bei dem Österreich unter anderem den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich 1938 in den Fokus stellte, wurde eine große Antisemitismus-Studie durchgeführt. Die erhobenen Umfrageergebnisse belegen, dass bei rund 30 Prozent der Befragten eindeutige Indizien für latenten Antisemitismus vorlagen.

Bei der Weiterführung der Studie 2020 wurden insbesondere auch Corona-spezifische Verschwörungsmythen untersucht: Die Ergebnisse zeigen, dass eine hohe Neigung zu Verschwörungsmythen Hand in Hand mit stark ausgeprägten antisemitischen Einstellungen geht. Der Aussage "Eine mächtige und einflussreiche Elite (z.B. Soros, Rothschild, Zuckerberg …) nutzt die Corona-Pandemie, um ihren Reichtum und den politischen Einfluss weiter auszubauen" stimmen beispielsweise 59 Prozent der Befragten mit hohem Hang zu Verschwörungstheorien zu.

Gedenksteine für die Opfer der Shoah am Ostarichipark in Wien
Die Steintafeln der Gedenkstätte sind in einem Oval angeordnetBild: Georges Schneider/photonews.at/imago images

"Österreich hat noch viel und tägliche Arbeit vor sich", mahnt der Präsident der Isrealitischen Kultusgemeinde in Wien, Oskar Deutsch, bei der Eröffnungsfeier.

Moralischer Prüfstein

In einer Zeit, in der zwar die Kontinuitäten von ehemaligen Tätern in Politik und Gesellschaft gebrochen sind, aber die letzten Menschen sterben, die aus eigener Erfahrung von den Grauen der Konzentrationslager berichten können, sieht sich eine neue Generation von Österreichern mit den Fragen und dem Gedenken an diese tiefsten menschlichen Abgründe konfrontiert. 64.000 Namen Ermordeter auf langlebigem Granit lassen das nicht vergessen.