1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Gerichtshof für Menschenrechte zieht Bilanz

Bernd Riegert30. Januar 2014

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Russland und die Türkei in seiner Bilanz des Jahres 2013 am meisten gerügt. Es gibt aber auch Kritik am Gericht - von Dauercampern und Briten.

https://p.dw.com/p/1Azoj
Europäischer Gerichtshof für Menschenreche (Foto: DW)
Haltestelle "Menschenrechte": Europäischer Gerichtshof in StraßburgBild: DW

Knapp ein Dutzend kleiner bunter Zelte steht in winterlicher Kälte gegenüber dem Stahl- und Glaspalast des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Die Bewohner der Ein- und Zwei-Mann-Zelte haben große Pappschilder mit ihren Anliegen aufgehängt. "Es sind meist Beschwerdeführer, deren Anliegen vom Gerichtshof als unzulässig oder unbegründet abgelehnt wurden", sagt Gerichtssprecherin Nina Salomon. Einige harren Wochen und Monate auf dem kargen Rasenstück zwischen Straße und Flussufer aus. Es gab bereits Hungerstreiks.

Eine Zeltbewohnerin hat auf ihr Schild geschrieben, sie sei von Gott auserwählt, der Erde Frieden zu bringen, habe aber leider von der NASA ein Gerät implantiert bekommen, dass sie daran hindert. Außerirdische sind auch im Spiel. Ein anderer verlangt eine Rente vom rumänischen Staat und ergeht sich in wüsten Beschimpfungen des Gerichtspräsidenten Dean Spielmann, der seit November 2012 das Gericht leitet. Der Luxemburger Spielmann nimmt es gelassen und weist bei der Jahrespressekonferenz des Gerichtshofs immer wieder darauf hin, dass die große Mehrzahl der eingereichten Fälle vom Gericht als unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgelehnt werden müssen. Der Gerichtshof des 47 Staaten umfassenden Europarates sei eben nur für die Menschenrechtskonvention und deren Einhaltung zuständig.

Zelte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Foto: DW)
Klagen mit vollem Körpereinsatz: Zelte von Demonstranten vor dem GerichtBild: DW/Bernd Riegert

Wer als einzelner Beschwerdeführer einen Staat wegen Verstoßes gegen die seit 1953 geltende Europäische Menschenrechtskonvention verklagen will, muss eine Reihe von Kriterien erfüllen, bevor er sich an das Gericht in Straßburg wenden darf. Vor allem muss er den nationalen Rechtsweg völlig ausgeschöpft haben. Im Moment sind knapp unter 100.000 Klagen am Gerichtshof anhängig. Die Zahl ist nach einer Reform der Prüfverfahren für eingehende Fälle in den letzten zwei Jahren leicht gesunken, Tendenz abnehmend, wie Gerichtspräsident Spielmann erleichtert berichtet. Trotzdem dauert es Jahre, bis die 47 Richter, einer pro Mitgliedsland des Europarates, die Rechtssachen entscheiden können.

Russland bleibt bei Verfahren Rekordhalter - Türkei bessert sich

Spitzenreiter bei den anhängigen Verfahren ist nach wie vor Russland. Spielmann sieht aber eine positive Entwicklung: "Für Russland sind die anhängigen Fälle von 42.000 auf nur noch 16.800 im letzten Jahr zurückgegangen. Das ist ein wirklich spektakuläres Ergebnis." Der Rückgang kommt dadurch zustande, dass viele alte Fälle als unzulässig abgewiesen wurden. Aus Russland, dem bevölkerungsreichsten Land des Europarates, kommen natürlich auch die meisten Klagen, meint Spielmann. Insgesamt hätten sich die Verhältnisse in Russland etwas gebessert, glaubt der Gerichtspräsident. "Das heißt nicht, dass es nicht trotzdem noch viele, viele Fälle gibt, die Probleme bereiten."

Russland bleibt mit 129 Verurteilungen auch weiter an der Spitze, gefolgt von der Türkei mit 124 Verurteilungen wegen Verstößen gegen die Menschenrechtskonvention. In den meisten Fällen geht es um ungerechtfertigte Inhaftierung und menschenunwürdige Behandlung oder Misshandlung. Die Türkei hat dennoch große Fortschritte gemacht, sagt Gerichtspräsident Spielmann, denn die Zahl der anhängigen Verfahren ist auf knapp 10.000 gesunken. "Die Türkei, die bislang den zweiten Platz belegte, ist auf den fünften Platz gesunken. Die Reformen im Justizwesen haben zu einer wesentlichen Verbesserung der Verfahren geführt. Das ist die richtige Richtung."

Italiens Justiz macht dem Gerichtshof Sorgen

Zum Vergleich: Deutschland wurde im vergangenen Jahr sechsmal verurteilt. In den vergangenen Jahren sprachen die Richter ein Urteil wegen Gewaltandrohung im Polizeiverhör und bemängelten die nachträgliche Sicherheitsverwahrung für Straftäter in Deutschland. Irland wurde gerade vor einigen Tagen verurteilt, weil es einem Opfer von Kindesmissbrauch in einer staatlichen Schule vor 40 Jahren keinen Schutz gewährte. Irland, Deutschland und die meisten anderen Staaten, die sich der Rechtssprechung des Gerichtshofs unterworfen haben, ziehen die entsprechenden Konsequenzen aus den Urteilen. Besonders in osteuropäischen Staaten und der Türkei ist es mitunter jedoch schwierig, die Urteile aus Straßburg durchzusetzen.

Dean Spielmann (Foto: DW)
Spielmann fordert: Wichtige Fälle besser herausfiltern aus dem riesigen Berg der EingabenBild: DW/Bernd Riegert

Selbst überrascht hat den Gerichtspräsidenten, dass Italien in der Fall-Statistik mittlerweile auf dem zweiten Platz hinter Russland rangiert. Aus Italien kommen vor allem Beschwerden, weil Gerichtsverfahren in dem Land übermäßig lange dauern und immer wieder verschleppt werden. Gefällte Urteile werden nicht umgesetzt. Auf Platz drei und vier der Statisik folgen die Ukraine und Serbien.

"Wir erfinden kein neues Recht"

Gegenwind bekommt der Gerichtshof, an den sich alle Bürger aus europäischen Staaten außer Weißrussland und dem Vatikan wenden können, neuerdings aus Großbritannien. Ein prominenter Richter im euroskeptischen Königreich hatte dem Gericht in Straßburg unterstellt, es sei "aktionistisch" und verletze die souveränen Rechte des britischen Parlaments. Dean Spielmann, der Gerichtspräsident, wies die Vorwürfe während seiner Jahrespressekonferenz zurück. "Wir schaffen keine neuen Rechte. Wir legen das Recht nur unter Rücksicht auf die heutigen Gegebenheiten aus. Das machen andere Gerichte genauso, nationale Gerichte tun das genauso wie übrigens auch das höchste Gericht in Großbritannien." Überlegungen aus Großbritannien, das Land solle seine Mitgliedschaft im Europarat und der Menschenrechtskonvention aufkündigen, um wieder völlig souverän zu sein, erteilte Spielmann eine Absage. Menschenrechte seien kein Widerspruch zur Souveränität. Außerdem brauche der Europarat Großbritannien, das sich traditionell für Demokratie und Menschenrechte engagiert habe.