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Politik

"Russlands Machthaber verpassen die Wende"

Juri Rescheto Moskau
4. September 2019

Tausende Russen protestieren gegen den Ausschluss unabhängiger Kandidaten von den Wahlen für das Moskauer Stadtparlament. Die Verlegerin Irina Prochorowa freut sich, auf den Demos viele Jugendliche anzutreffen.

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Russland | Proteste in Moskau
Bild: picture-alliance/dpa/G.Sysoev

DW: Der Sommer 2019 war kalt. Wie wird er sonst in die Geschichte Russlands eingehen? 

Irina Prochorowa: Er war kalt nur von den Temperaturen her. Das politische Klima war dagegen eher subtropisch, sehr heiß. Dieser erstaunliche Sommer hat noch einmal allen gezeigt, wie unvorhersehbar unser Land ist. Niemand konnte ahnen, dass diese Wahlen der Mosgorduma (des Moskauer Stadtparlaments, am kommenden Wochenende, Anm. d. Red.), die sonst weitgehend ignoriert werden, zum wichtigsten politischen Ereignis werden. Ich bin mir ganz sicher, dass das eine interessante Wende im öffentlichen Leben ist.      

Nach Angaben der Wahlhelfer-Organisation "Der weiße Zähler" war die Hälfte der Teilnehmer der Protestdemo am 10. August jünger als 33. Wer sind sie?      

Ich gehe regelmäßig zu allen Protesten seit 1991 und verfolge mit großem Interesse, wie sich die Teilnehmer verändern. 1991 demonstrierten zwar auch junge Menschen vor dem Weißen Haus (dem Sitz der russischen Regierung, Anm. d. Red.). Auch ich konnte mich damals als jung schätzen. Trotzdem waren dort alle sozialen Schichten und alle Altersgruppen vertreten. Das verändert sich aber. Bei den Protesten am Bolotnaja-Platz (in Moskau in den Jahren 2011-2013, Anm. d. Red.) sah man schon eher die Jugend auf den Straßen. Und jetzt hat man den Eindruck, dass die meisten Teilnehmer jung sind, trotz einiger "Veteranen" mittendrin. Ich finde das richtig, weil das von einem Generationenwechsel zeugt. Und ich finde es sehr gut, dass junge Menschen politisch aktiv werden. Anders als meine Generation, die eine Depolitisierung wollte - ermüdet von der sowjetischen Ideologie. Vielleicht war das unser Fehler damals. Jetzt aber sehe ich nicht nur eine gewisse Revolution der Würde, sondern auch eine Revolution des Rechts. Zum ersten Mal wird die Achtung der Verfassung gefordert, der von ihr garantierten Rechte und Pflichten.

Die Leiterin der Zentralen Wahlkommission Ella Pamfilowa nannte diese jungen Menschen in einem DW-Interview "Putins Küken". Andere sprechen von "Nawalnjata", also den "Kindern Nawalnys". Und Sie?

Die renommierte russische Verlegerin Irina Prochorowa
Die renommierte Verlegerin Irina Prochorowa ist in Russland für ihren kritischen Geist bekannt Bild: DW/Juri Rescheto

Ich finde beide Bezeichnungen falsch. Das sind junge Menschen, die in einem post-sowjetischen Land groß geworden sind. Die keine systematischen Erniedrigungen erfahren haben, die alle Sowjetbürger erfahren mussten, kein hartes Gitter, kein System kannten, das jegliche Individualität unterdrückte. Die jungen Menschen von heute sind in einer freieren Gesellschaft aufgewachsen, sie haben Zugang zu mehr Informationen und werden jetzt zur treibenden Kraft.Sie sprachen am Anfang von einer Wende. Dieses Jahr gab es viele Proteste nicht nur in Moskau: gegen die Rentenreform überall im Land, gegen die geplante Mülldeponie im Norden, gegen die Pläne der Russisch-Orthodoxen Kirche in Jekaterinburg und schließlich gegen die aus der Sicht der Opposition unfairen Wahlen hier in Moskau - Proteste, die am Ende allgemein gegen die Politik der Machthaber gerichtet waren. Was passiert da gerade? Was ist das für eine Wende, von der Sie sprechen?    

Wir hatten sehr viele Illusionen in den 90er Jahren. Viele politisch aktive Menschen erreichten wichtige Ziele in der post-sowjetischen Zeit. Trotzdem hat der Typus des Sowjetmenschen seine Grenzen, die ihm durch seine damalige Umgebung auferlegt wurden. Ich denke, jetzt sind die Ressourcen eines solchen Sowjetmenschen endgültig ausgeschöpft. Wir beobachten gerade den Auftritt einiger weiteren jüngeren Generationen, die die politische Agenda im Land bestimmen. Proteste sind etwas völlig Normales. Ein ganz normales Leben. Eine ganz normale gesunde politische Aktivität, die den Machthabern hilft, die öffentliche Meinung im Land am günstigsten aufzuspüren und sich schnell zu orientieren: Gesetze zu ändern oder ganz abzuschaffen. Genauso wie die Meinungsfreiheit. Sie ist sogar nützlicher für die Machthaber als für die Gesellschaft selbst, weil sie ihnen hilft, kostenlos das ganze Spektrum der Unzufriedenheit im Land zu begreifen. Sobald die Meinungsfreiheit weg ist, wird ein Land zu einem Rätsel für sich selbst. Die Machthaber machen dann grausame Fehler, weil sie die Stimmung im Land nicht mehr spüren und den Zustand der Gesellschaft nicht mehr begreifen.

Die jetzige "Explosion" im Zusammenhang mit den Wahlen der Mosgorduma ist ein klassisches Beispiel. Die Machthaber haben nicht verstanden, dass die Zeiten sich geändert haben. Dass es neue Politiker gibt, die auf friedlichem Weg in den Parlamenten für gerechtere Gesetze kämpfen wollen. Und dass man früher oder später solche Menschen integrieren muss. Stattdessen erleben wir eine klassische sowjetische Lösung des Problems: nicht zulassen, verjagen usw. Und so führte eine ganz unschuldige Situation zu einer Explosion der Empörung.

Rescheto Juri Kommentarbild App
Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga