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"Ur": Kampf um die Deutung der Erinnerung

Andrea Kasiske
29. September 2018

4000 Jahre umgeschichtet: Eine deutsch-arabische Theater-Produktion macht sich auf die Suche nach dem kulturellen Erbe - von der antiken Stadt Ur bis in heutige Palmyra. Ein Gespräch mit dem Regisseur Sulayman Al Bassam.

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Deutschland  "Ur" am Residenztheater München
Bild: Residenztheater/J. Baumann

"Ur"-Premiere in München

Der kuwaitische Autor und Regisseur Sulayman Al Bassam ist mit seinem arabischen Ensemble SABAB auf den Theaterbühnen Europas zu Hause. Der Wahl-Londoner kämpft in seinen Stücken gegen politische und kulturelle Engstirnigkeit. Jetzt schlägt er am Münchner Residenztheater mit der deutsch-arabischen Koproduktion "Ur" einen Bogen vom antiken Mesopotamien bis zur Gegenwart. Es ist ein vielschichtiges Plädoyer für eine offene Gesellschaft - und voller Hoffnung. Die Deutsche Welle hat Sulayman Al Bassam am Tag der Premiere am Münchner Residenztheater getroffen und mit ihm über sein Stück gesprochen. 

Deutsche Welle: Sie galoppieren in "Ur" durch 4000 Jahre Geschichte. Und gehen sogar noch weiter bis in die Zukunft. Wo sehen Sie den roten Faden in Ihrem Stück?

Sulayman Al Bassam: Es gibt darin verschiedene Ebenen von Geschichte. Ursprünglich ging es nur um die mesopotamische Stadt "Ur", 2000 vor Christus, eine der ältesten Städte der Menschheit. Die Szenen beruhen auf antiken sumerischen Texten, den poetischen "Klageliedern" über die Zerstörung von Ur. Eine Allegorie auch auf die jüngsten Zerstörungen von arabischen Städten, in den letzten vier, fünf Jahren - Aleppo, Gaza, Bengasi, Sanaa - als Folge der Niederschlagung des arabischen Frühlings, der Unterdrückung und der Kämpfe in verschiedenen Regionen. 

Als klar war, dass wir mit den deutschen Schauspielern zusammenarbeiten würden, wusste ich, das Stück muss sich verändern, muss über den arabischen Kontext hinausgehen. Wir beobachten in der Gegenwart die großen Migrationsbewegungen, Millionen von Menschen, die in Bewegung sind, in alle Teile der Welt, auch nach Europa und Deutschland. Die vier Schauspieler in dem Stück sind aus Syrien und dem Libanon und sie sind Teil der arabischen Diaspora. Sie leben in Europa und arbeiten hier als professionelle Schauspieler. Die junge Hauptdarstellerin, die die Göttin und Herrscherin von Ur, Nin-Gal, spielt, gehört zur jüngsten Flüchtlingsgeneration aus Syrien und lebt in Deutschland. Sie ist ein konkretes Beispiel für die aktuellen Bezüge im Stück.

Deutschland Sulayman Al Bassam Autor und Regisseur von "Ur" am Residenztheater München
Sulayman Al Bassam Bild: Residenztheater/T. Dashuber

Eine andere Szene spielt im Jahr 2015 in Palmyra. Der IS will die Zeugnisse der vorislamischen Zeit zerstören, ihre Bewahrer töten. Darüber hinaus schaue ich in die Zukunft, ins irakische Mossul im Jahre 2035. Eine futuristische Stadt, komplett wieder aufgebaut, dank des globalen Kapitals. Wir sehen ein Paar, dem es materiell an nichts fehlt, aber unter der Oberfläche tun sich Abgründe auf.

Die Göttin und Herrscherin von "Ur" , Nin-Gal steht für eine radikale, utopische Idee. Sie will die Waffen gegen Gedichte tauschen. Steht sie für eine Art "sanfte Revolution"?

Nin-Gals Revolte hat zwei Komponenten. Einerseits beharrt sie auf Poesie anstelle von Gewalt, andererseits befreit sie sich sexuell, rebelliert gegen die männlich bestimmte Moral. Letzteres führt schließlich zum Bürgerkrieg, schlimmer noch, zum Krieg des eigenen Vaters gegen sie. Im Stück gibt es eine Art weiblichen Protestsong, der sich auf den Arabischen Frühling bezieht und durchs Stück führt. Je nach Situation wird er missverstanden, umgedeutet oder man versucht, ihn auszulöschen, wie die Proteste selbst.

Deutschland  "Ur" am Residenztheater München
Nin-Gal: Die Göttin und Herrscherin von "Ur"Bild: Residenztheater/T. Dashuber

Krieg, Revolte, kulturelles Erbe - das sind Themen im Stück. Es geht aber auch im engeren Sinne um deutsche Geschichte, um die koloniale Aneignung des Orients durch deutsche Archäologen Anfang des 20. Jahrhunderts. Was hat sie dazu bewogen, das mit aufzunehmen?

Die historischen Figuren, die Archäologen Friedrich Delitzsch, Robert Koldewey und Walter Andrae, der spätere Gründer des Pergamon-Museums, stehen für eine bestimmte Zeit kolonialer Geschichte. Die Franzosen, die Engländer und später die Deutschen suchen im Nahen Osten Artefakte, die ihnen etwas über den Ursprung des Christentums und damit über sich selbst sagen. Was sie dort finden, irritiert sie, führt zu einem erbitterten ideologischen Streit über kulturelle Wurzeln und vermeintliche arische Herkunft. Diese Situation, wo kulturelle Identität so überfrachtet ist, wo Spannungen vorprogrammiert sind, das ist ein guter Boden für Theater, das hat mich als Stoff gefesselt.

Das ist Ihre zweite Koproduktion in Deutschland an einem großen Theaterhaus. Sie arbeiten mit einem gemischten Ensemble, in drei Sprachen. Ein quasi "babylonisches" Unterfangen. Warum machen Sie es sich so schwer?

Mich interessierte schon immer, im Theater mit Sprache bzw. mit unterschiedlichen Sprachen das jeweilige eigene Selbstverständnis der Schauspieler zu hinterfragen. Gewissheiten ins Wanken zu bringen, die Grenzen von kulturellem Austausch auszuloten. Es war wirklich ein Vergnügen, mit den deutschen Schauspielern zu arbeiten. Es ist das erste Mal, dass ich in einem deutschen Staatstheater inszeniere. Ich mache Theater überall auf der Welt, aber meist finde ich es schwierig, an großen Institutionen zu arbeiten. Das war eine wirklich gute Erfahrung hier. Ich bin glücklich, dass das Stück ins Repertoire des Residenztheaters übergangen ist, das ist klasse.