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PolitikUkraine

Selenskyj: vom Komiker zum Krisenmanager

25. Februar 2022

Lange Zeit sahen viele in Wolodymyr Selenskyj immer noch den Kabarettisten, der durch Zufall ins Präsidentenamt gekommen ist. In der Krise mit Russland ist der 44-Jährige zu einem respektierten Staatsmann gereift.

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Ukraine-Konflikt - Präsident Selenskyj spricht zur Nation
Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht am 24. Februar 2022 in einer Fernsehsendung zur Nation Bild: picture alliance/dpa/Ukrainian Presidential Press Office via AP

Ausgerechnet ein Quereinsteiger, ein Schauspieler, ein Polit-Clown, unterschätzt selbst von seinen Anhängern, greift nach dem höchsten Amt im Land? Eigentlich undenkbar, doch der Mann hat etwas, was vielen Politikern abgeht und ihn gerade in Krisenzeiten über sich hinauswachsen und zu Hochform auflaufen lässt: Er ist ein herausragender Kommunikator. Viele seiner Sätze bleiben noch lange im Gedächtnis, finden irgendwann den Weg in die Geschichtsbücher.

Ronald Reagan, 1980 zum 40.Präsidenten der USA gewählt, sagt am 12. Juni 1987 am Brandenburger Tor den meistzitierten Satz der Wendezeit. "Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor. Reißen Sie diese Mauer ein."

45 Jahre später begrüßt ein Mann mit einem ähnlichen Lebenslauf seine Landsleute in den Videobotschaften mit "Freies Volk! Freies Land!" Wolodymyr Selenskyj  sagt Sätze wie "Wir Ukrainer sind eine friedliche Nation. Aber wenn wir heute schweigen, sind wir morgen verschwunden!" Und kritisiert die mangelnde Unterstützung des Auslands aufs Schärfste: "Wir brauchen eine Anti-Kriegs-Koalition. Wir verteidigen unseren Staat allein. Die mächtigsten Kräfte aus der Welt schauen zu."

Wolodymyr Selenskyj: "Wir sind bei der Verteidigung unseres Landes allein"

Vom "Diener des Volkes" zum Präsidenten der Ukraine

Ronald Reagan, vor 18 Jahren gestorben, wird von vielen Menschen in den USA immer noch wie ein Heiliger verehrt. Selenskyj baut gerade kräftig daran, sich in der Ukraine einen solchen Status aufzubauen. Allerdings ist dabei nicht ganz klar, was in den nächsten Tagen und Wochen mit ihm passieren wird: Es kursieren Meldungen, dass Selenskyj von Russland getötet werden soll. Er selbst mutmaßt, dass der russische Angriff ihn stürze solle. Der Feind habe ihn zum Ziel Nummer Eins erklärt.

Ukraine Präsident Wolodymyr Selenskyj in Rivne
Wolodymyr Selenskyj bei einer Militärübung in Rivne im Norden der Ukraine am 16.Februar 2022Bild: AP/picture alliance

Vom Entertainer, der in der beliebten Serie "Diener des Volkes" die Korruption und Misswirtschaft in der Ukraine vor einigen Jahren satirisch aufs Korn nimmt, hat sich Selenskyj zu einem ernsten Staatsmann entwickelt, der in der Krise scheinbar mühelos den richtigen Ton trifft. Vielleicht gerade weil er vor seiner Präsidentschaft als Showmoderator, komödiantischer Schauspieler und rhetorisches Ausnahmetalent gelernt hat, mit welchen Worten man eine möglichst große Wirkung und Wucht erzielen kann.

Während die Situation in der Ukraine angesichts des russischen Angriffs immer bedrohlicher anmutet, werden Selenskyjs Appelle jedes Mal eindringlicher und pathetischer, Beobachter halten seine Rede kurz nach der russischen Invasion für die beste seines Lebens. Emotional, todesmutig und gleichzeitig bestimmt sagt er zu den russischen Truppen: "Wenn Ihr angreift, dann werdet Ihr unsere Gesichter sehen, nicht unsere Rücken!"

Auch auf Twitter beherrscht der ukrainische Präsident perfekt die Klaviatur der Kommunikation. Im Stundentakt feuert er präzise Statements in die Welt, bedankt sich am Freitagmittag auf Ukrainisch und Englisch bei Schweden für die militärische, technische und humanitäre Unterstützung. Und schließt mit dem prägnanten Appell: "Lasst uns zusammen eine Anti-Putin-Koalition bilden!"

Der mediale Zweikampf mit Wladimir Putin

Es gehört zur paradoxen Geschichte dieses Krieges, dass die Ukraine den russischen Angreifern militärisch hoffnungslos unterlegen ist, Selenskyj aber Wladimir Putin rhetorisch klar nach Punkten besiegt. Nach der wirren einstündigen Rede des russischen Präsidenten zur Anerkennung der ostukrainischen Separatistengebiete beruhigt Wolodymyr Selenskyj seine Landsleute: "Keine Panik! Wir sind stark und auf alles gefasst. Wir werden alle besiegen, denn wir sind die Ukraine!" - und verhindert damit eine Massenpanik.

Frankreich PK Wolodymyr Selenskyj, Angela Merkel, Emmanuel Macron und Wladimir Putin
Normandie-Format: Wolodymyr Selenskyj, Angela Merkel, Emmanuel Macron und Wladimir Putin 2019 in ParisBild: Jacques Witt/Maxppp/dpa/picture alliance

Überhaupt Putin: Wenn der russische Präsident von einem "Genozid" in der Ostukraine spricht und von einer "Entnazifizierung" als Kriegsgrund schwadroniert, muss das gerade für Selenskyj wie der blanke Hohn sein. Der ukrainische Staatschef, in einer russischsprachigen Familie aufgewachsen, ist jüdischer Herkunft. Sein Großvater war bei der Roten Armee, dessen Bruder fiel dem Holocaust zum Opfer.

Selenskyjs Zustimmungswerte vorher lange im Keller

Wahrscheinlich war Selenskyj in der Ukraine noch nie so populär wie jetzt. Dabei waren viele seiner Landsleute vor dem Krieg mit Russland alles andere als zufrieden mit ihrem Staatsoberhaupt. Sein vollmundiges Versprechen beim Amtsantritt vor drei Jahren, den Konflikt in der Ostukraine zu beenden, konnte er nicht einhalten. Die Fortschritte im Minsker Abkommen blieben aus, stattdessen lösten sich die Vereinbarungen mehr und mehr in Luft auf.

Russischer Militäreinsatz am 24.Februar 2022 in Tschuhujiw in der Ostukraine
Russischer Militäreinsatz am 24.Februar 2022 in Tschuhujiw in der OstukraineBild: Aris Messinis/Getty Images/AFP

Nicht unerwähnt bleiben darf der Skandal um die Pandora Papers, in die ausgerechnet Selenskyj bzw. sein Umfeld verwickelt sein soll. Recherchen eines internationalen Journalisten-Netzwerks förderten zu Tage, dass Selenskyj Offshore-Firmen hält, die auf Umwegen von einem Oligarchen bezahlt wurden. 

Nach dem Angriff Russlands droht erneut ein Kalter Krieg

Ronald Reagan gilt Ende der 1970er Jahre übrigens als Mann von gestern, bei den internen Vorwahlen der Republikaner zur Präsidentschaftskandidatur war er 1968 an Richard Nixon und 1976 an Gerald Ford gescheitert. Doch als 1979 die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert und der Kalte Krieg wieder aufflammt, gewinnt Regan ein Jahr später die Wahl gegen den glücklosen Jimmy Carter.

Mehr als vier Jahrzehnte später und nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht die Welt nun vor einer neuen Version des Kalten Krieges. Wolodymyr Selenskyjs Rolle darin steht noch nicht fest.

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur