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Politik

Impfe sich, wer kann!

6. Juni 2021

Vom 7. Juni an können sich alle impfen lassen, die das wollen. Das Problem: zu wenig Impfstoff und viele noch ungeimpfte Alte und Kranke. Der Gesundheitsminister übt sich in Wortakrobatik. Aus Berlin Sabine Kinkartz.

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Coronavirus - Sonderimpfaktion für über 60-Jährige
Bild: Stefan Sauer/dpa/picture alliance

"Die Impfkampagne läuft weiter auf Hochtouren und wir sehen erste Effekte", freute sich Jens Spahn (CDU) kürzlich. "Das hängt vor allem auch damit zusammen, dass wir zuerst die Risikogruppen geimpft haben: Rund 80 Prozent aller über 60-Jährigen sind bereits mindestens einmal geimpft." Der Bundesgesundheitsminister findet es daher richtig, die Impfpriorisierung aufzuheben. Vom 7. Juni an kann sich in Deutschland jeder impfen lassen, der zwölf Jahre oder älter ist.

Impfkampagne Deutschland
Bundesgesundheitsminister Jens SpahnBild: picture alliance/dpa

Jens Spahn versteht sich meisterlich darauf, frohe Botschaften zu verkünden, die bei näherem Hinsehen oft weniger Substanz haben, als es zunächst scheint. Oder an anderer Stelle neue Probleme aufwerfen. Auch wenn der Gesundheitsminister sie in einem Atemzug nennt, sind die über 60-Jährigen keineswegs deckungsgleich mit den bislang vorrangig geimpften Risikogruppen.

80 Prozent sind nicht gleich 80 Prozent

Zu denen gehören neben den Älteren auch Menschen mit Vorerkrankungen, die ebenfalls ein erhöhtes Risiko haben, schwer an COVID-19 zu erkranken. Außerdem Angehörige bestimmter Berufsgruppen, die viele Kontakte und damit ein besonders hohes Ansteckungsrisiko haben. Insgesamt haben mehr als 37 Millionen Menschen Anspruch auf eine Priorisierung.

Impfstart Brandenburg Großräschen Seniorenheim
Von den über 80-Jährigen sind die meisten geimpft - aber nicht alleBild: Fabrizio Bensch/REUTERS

Von ihnen müssten 80 Prozent geimpft sein, bevor die Priorisierung aufgehoben werden könne, meint der Vorsitzende der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Zahlen dazu gibt es aber nicht, weil das Robert Koch-Institut seit Anfang April - seitdem neben den staatlichen Impfzentren auch Hausärzte impfen dürfen - nur noch danach unterscheidet, ob der Impfling älter oder jünger als 60 Jahre ist. "Zurzeit verhindern die Länder und der Bund, dass wir die Informationen bekommen, um einzuschätzen, wie weit der Impffortschritt ist", klagt Brysch.

Undurchsichtige Lage

Laut Robert Koch-Institut sind in Deutschland mit Stand vom 5. Juni rund 37 Millionen Erstimpfungen verabreicht worden und etwas mehr als 17 Millionen Zweitimpfungen. Rein rechnerisch würde das der Zahl der Priorisierten entsprechen. Tatsächlich aber mehren sich die Klagen derer, die zwar priorisiert sind, aber bislang keinen Impftermin bekommen konnten.

Nach der Aufhebung der Priorisierung würden nun "im Prinzip drei Gruppen um den Impfstoff ringen", warnt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. "Diejenigen, die noch eine Priorisierung haben, dann diejenigen, die keine Priorisierung haben und erwachsen sind, und die Kinder." Gemeint sind die 12- bis 15-Jährigen, für die die Europäische Arzneimittelagentur EMA den Impfstoff von Biontech/Pfizer vor kurzem zugelassen hat.

Ohne Impfungen keine geöffneten Schulen?

Umfragen zufolge würden etwa 50 Prozent aller Eltern ihre Kinder impfen lassen. Zwar erkranken die meisten Kinder nicht schwer an COVID-19, doch mit der Impfung ist das Versprechen auf alte Freiheiten verbunden und ein geregelter Schulbesuch. "Wenn wir die Kinder nicht früh impfen, dann glaube ich, dass wir im Herbst wieder deutliche Schulausfälle hinnehmen müssen", meint Lauterbach. Das könne man niemandem zumuten.

Deutschland Berlin | Bundespressekonferenz, Karl Lauterbach
Der SPD-Politiker Karl Lauterbach drängt darauf, Kinder und Jugendliche schnell zu impfenBild: Stefanie Loos/REUTERS

Das wollen sich aber auch die Politiker nicht zumuten. Am 26. September finden die Bundestagswahl und drei Landtagswahlen statt. Unzufriedene Eltern, die über Schulausfälle diskutieren, kann da niemand brauchen. Das neue Schuljahr beginnt mancherorts bereits Anfang August. Da zwischen zwei Impfungen sechs Wochen liegen, müsste sehr bald mit der Immunisierung begonnen werden.

Der Impfstoff fehlt - noch immer

Doch dafür gibt es derzeit keine Kapazitäten. Zwar wiederholt Bundesgesundheitsminister Spahn immer wieder, dass Deutschland im Juni, Juli und August allein 50 Millionen Dosen des auch für Jugendliche zugelassenen BioNTech-Impfstoffs bekommen würde. Aktuell kürzt das Ministerium aber die Auslieferungen an Impfzentren und Arztpraxen. Von den mehr als fünf Millionen Anfang Juni gelieferten Dosen wurde ein Fünftel als Reserve zurückgehalten. Um den Rest konkurrieren ab dem 7. Juni auch Betriebsärzte, die in der ersten Woche rund 700.000 Impfdosen erhalten sollen.

Wurden für diese Woche noch 1,7 Millionen Impfdosen an die Impfzentren verteilt, sind in den kommenden drei Wochen nur noch jeweils 1,5 Millionen Dosen vorgesehen. Ende Juni sollen es dann wieder 1,7 Millionen sein. In vielen Bundesländern sind die Impfzentren bereits bis September mit Impfwilligen aus den Priorisierungsgruppen ausgebucht. Vielerorts sind derzeit gar keine Erstimpfungen mehr möglich, weil der Impfstoff für die Zweitimpfungen gebraucht wird.

Priorisierung durch die Hintertür?

Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, empfiehlt, mit den Impfungen für Kinder und Jugendliche noch zu warten. "Ich halte es für eine sehr gute Idee - wie das in manchen Bundesländern auch schon geplant ist -, in den Impfzentren noch ein bisschen weiter zu priorisieren und auch bei den niedergelassenen Ärzten darauf zu achten, dass die Risikopatienten möglichst flott einen Termin kriegen", sagte sie in der ARD-Talksendung Maischberger.

SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach sieht das ähnlich, drängt aber darauf, anschließend die Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen. "Ich würde so weit gehen zu sagen, ich nehme den Impfstoff jemandem weg, nämlich den Erwachsenen, die keine Priorisierung haben."

Diese Meinung vertritt auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Er hatte bereits Anfang Mai mit seinen Länderkollegen über die erwartbare Zulassung eines Impfstoffs für Kinder und Jugendliche diskutiert. Dabei sprach Spahn von "zusätzlichen" Impfstoff-Kontingenten für Kinder und Jugendliche. Für ihn hieß das, Impfstoff abzuzweigen und zusätzliche Kontingente zu bilden. Seine Kollegen interpretierten ihn so, dass es mehr Lieferungen geben werde.

Politische Posse

Selbst Armin Laschet, CDU-Kanzlerkandidat und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, stellte es am 19. Mai im Landtag in Düsseldorf so dar. "Es ist bereits jetzt vereinbart, dass der Impfstoff, den wir für die 12- bis 15-Jährigen brauchen, zusätzlich zur Verfügung gestellt wird." Er werde einen Schwerpunkt auf das Impfen von Kindern und Jugendlichen setzen. "Ich werde darauf drängen, dass die Länder, in denen die Schulferien zuerst beginnen, auch die ersten sind, die diesen Impfstoff erhalten, damit möglichst viele Kinder noch vor den Ferien geimpft werden können."

Deutschland, Berlin | Armin Laschet, CDU-Präsidiumssitzung
CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet weiß, dass unzufriedene Eltern seiner Partei schaden könntenBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Erst auf dem Impfgipfel der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin fiel auch dem Letzten auf, dass Deutschland nur die Liefermengen zu erwarten hat, die seit Monaten feststehen. Spahn habe da eine sinnlose Debatte angezettelt, hieß es selbst in der Union. Der so Gescholtene lässt sich aber nicht beirren. "Wir halten an dem Ziel fest, bis Ende August auch für die 12- bis 18-Jährigen mindestens die erste Impfung möglich gemacht zu haben", sagte er kürzlich.

Das Corona-Virus bleibt

Wenn alle Impfstofflieferungen wie geplant in Deutschland eintreffen würden, so Spahn weiter, werde man außerdem bis Mitte Juli 80 bis 90 Prozent der impfbereiten, impfwilligen Erwachsenen ein Angebot gemacht haben können. Allerdings sind nur 72 Prozent aller Erwachsenen auf jeden Fall impfwillig, und ein Angebot zu machen bedeutet lediglich, einen Termin für eine erste Impfung in Aussicht zu stellen.

Im Herbst werden dann auch diejenigen einen erneuten Termin brauchen, die priorisiert bereits Anfang des Jahres geimpft wurden. Denn soviel ist klar: Das Corona-Virus bleibt und Impfungen müssen wahrscheinlich regelmäßig aufgefrischt werden.

Impfpriorisierung aufgehoben