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Meinung: Ein Stück weit stolz auf England

App-Kommentarbild Matt Pearson
Matt Pearson
8. Juli 2021

Englands Fußballer besiegen im EM-Halbfinale Dänemark und stehen erstmals seit 1966 in einem großen Turnierfinale. Matt Pearson stand mit auf der Tribüne und empfindet einen für ihn selbst überraschenden Nationalstolz.

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Euro 2020 | England vs. Dänemark  DW’s Matt Pearson Wembley  Stadion
DW-Reporter Matt Pearson (l.) am Mittwochabend im WembleystadionBild: Mike Kew

Es gibt tausend Dinge, mit denen ich beginnen könnte, aber das Ende erscheint am geeignetsten. Oder zumindest ist es mir und 60.000 anderen am frischsten im Gedächtnis. Als der Schiedsrichter am Mittwochabend das Halbfinale der Euro 2020 im Wembley-Stadion abpfiff und damit den 2:1-Sieg nach Verlängerung gegen Dänemark amtlich machte, wurde das Gemeinschaftserlebnis noch eine Stufe höhergeschraubt. Erleichterung, Freude und nicht wenig Stolz brachen sich Bahn in den Jubelrufen der Menschen, die so lange nach solchen Erlebnissen gelechzt hatten.

Ich gehörte zu ihnen. Meine erste bewusste Erinnerung an einen Auftritt Englands ist die WM 1990. Ich war damals acht Jahre alt. Wir verloren im Halbfinale gegen Deutschland. Sechs Jahre später kam der Fußball nach Hause: Bei der EM 1996 verloren wir wieder im Halbfinale, wieder gegen Deutschland.

Euro 2020 - Fans gather for England v Denmark
Ausgelassene Stimmung auf den Straßen LondonsBild: HENRY NICHOLLS/REUTERS

Nicht so an diesem Mittwochabend in Wembley. Nicht dieses englische Team. Während das Land zerrissen ist wegen unterschiedlicher Meinungen über den Brexit, die Corona-Pandemie oder auch Premierminister Boris Johnson, hat Gareth Southgate eine Mannschaft zusammengestellt, auf die fast jeder stolz sein kann, auf und neben dem Platz. Als nach dem Abpfiff "Sweet Caroline" im Stadion ertönte, wirkten Englands Spieler völlig losgelöst. Noch nie haben sich gute Zeiten so gut angefühlt, wie es in dem Song heißt.

Kalvin Phillips suchte sich eine Gruppe von Leeds-Fans in der Menge aus und tauschte sein Trikot gegen eine Fahne, die er mit Mühe enthüllte, Kyle Walker dirigierte etwas unbeholfen die England-Fans zur Neil-Diamond-Nummer.

Vielfältiges und sympathisches Team vereint gespaltenes Land

Auf diese Spieler kann man mit Fug und Recht stolz sein. Etwa auf Marcus Rashford, der mit seinem großen sozialen Engagement immer wieder für Schlagzeilen sorgt, oder auf Raheem Sterling, der auf die Knie geht, um gegen Rassismus zu protestieren.

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Matt Pearson genoss die Euphorie in Wembley

Nach der Euphorie, einen außergewöhnlichen und emotionalen Sieg mit 60.000 Menschen erlebt zu haben, wartete draußen vor dem Stadion allerdings auch eine gewisse Ernüchterung. Eine kleine Menschentraube, mit ebenso vielen Kameras wie Teilnehmern, hielt ein "All Lives Matter"-Banner hoch. Die vorbeiströmenden Fans beider Mannschaften schüttelten den Kopf über diese Verunglimpfung von Sterling und Co. Darin waren sie sich einig.

Das kann Fußball leisten. Obwohl es keine historische sportliche Rivalität zwischen England und Dänemark gibt, gab es einen harten, aber freundlichen Wettstreit zwischen den Fans auf den Tribünen. Auch das kann dieses Land: sich über den Köder zu erheben, Gemeinschaft statt Aggression zu suchen, Freude statt Ärger.

Gut möglich, dass dieses großartige Halbfinale und möglicherweise auch das Finale am Sonntag gegen Italien nur Ausnahmen bleiben. Aber sie sind das Feiern wert. Der Mittwochabend war ein Ausbruch von Freude nach einer brutalen Corona-Zeit. Es war nicht perfekt, die Schutzmasken fielen, und man könnte sich fragen, ob das Ganze überhaupt legitim war. Und doch hat es eine solche Eruption gemeinsamer Emotionen seit Langem nicht mehr gegeben.

Als jemand, der den größten Teil seines Erwachsenenlebens im Ausland gelebt hat, fällt mir Patriotismus nicht leicht. Aber am Mittwoch im Wembley-Stadion haben Gareth Southgate und sein Team mich mit echtem Stolz erfüllt.

Adaption: Stefan Nestler