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Russland will internationale Gerichte ignorieren

Mikhail Bushuev / Markian Ostaptschuk16. Dezember 2015

Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beispielsweise will Russland nicht mehr vollstrecken müssen. Beobachter diskutieren, ob nun auch ein Austritt Russlands aus dem Europarat bevorstehen könnte.

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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Gerichtssaal (Foto: Rainer Jensen /dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/R. Jensen

Entscheidungen internationaler Gerichte müssen in Russland nicht mehr unbedingt umgesetzt werden. Das geht aus einem Gesetz hervor, das der russische Präsident Wladimir Putin am Montag unterzeichnet hat. Russische Behörden, die die Interessen ihres Landes vor internationalen Gerichten verteidigen, können sich künftig an das Verfassungsgericht wenden. Das wiederum darf dann entscheiden, ob Russland bestimmte Urteile vollstreckt.

Walerij Sorkin, Vorsitzender des russischen Verfassungsgerichts, sagte bei einem Treffen mit Putin am Tag der Unterzeichnung des Gesetzes, Russland wende sich damit nicht von Europa ab. Doch ihm zufolge besteht beispielsweise keine Notwendigkeit, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu erfüllen, "wenn die eigene Verfassung und die auf ihr beruhenden Gesetze die Rechte der Bürger besser schützen". Allerdings führt Russland seit Jahren die Statistik des EGMR an. In vielen Fällen geht es um Behördenwillkür. Die Kläger können sich an die übernationale Instanz in Straßburg wenden, wenn der Rechtsweg im eigenen Land ausgeschöpft ist.

Europarat reagiert zurückhaltend

Im Hinblick auf das neue russische Gesetz, das dem Verfassungsgericht die Befugnis einräumt, mögliche Konflikte zwischen den Urteilen des EGMR und der russischen Verfassung zu prüfen, erinnert der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, daran, dass sich gemäß Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention alle Mitgliedsstaaten des Europarates dazu verpflichtet haben, die endgültigen Urteile des Straßburger Gerichtshofs einzuhalten.

Thorbjorn Jagland (Foto: Zurab Dzhavakhadze/TASS)
Thorbjørn Jagland: Russland muss die Europäische Menschenrechtskonvention einhaltenBild: imago/ITAR-TASS

Jagland erklärte, dass "es dem Verfassungsgerichtshof Russlands obliegt, die Achtung der Konvention zu gewährleisten, wenn er infolge der neuen Bestimmungen tätig werden muss". Der Europarat könne lediglich in konkreten Fällen bewerten, inwieweit Russland seine Verpflichtungen einhalte. "In anderen Mitgliedsstaaten ist bereits geprüft worden, ob die Urteile des Straßburger Gerichtshofs mit der nationalen Verfassung im Einklang stehen. Bisher ist es den Ländern stets gelungen, eine verfassungskonforme Lösung zu finden, und dies sollte auch in Russland möglich sein", betont der Generalsekretär des Europarates.

Gegensätze zwischen Moskau und dem Westen

Der deutsche Rechtswissenschaftler Otto Luchterhandt, der an der Ausarbeitung der russischen Verfassung Anfang der 90er Jahre beteiligt war, sieht zwei Probleme in den Beziehungen zwischen dem EGMR und Russland. Das eine sei die Balance zwischen der nationalen und internationalen Gesetzgebung, und das andere die zunehmenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Moskau und dem Westen bezüglich der Achtung der Menschenrechte in Russland. In diesem Kontext sei das Vorgehen des Kremls gegen den EGMR zu sehen, so Luchterhandt im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Aus russischer Sicht würden internationale Gerichte Urteile in einem bestimmten gesellschaftlichen und politischen Kontext sprechen, gab Sorkin, Vorsitzender des Verfassungsgerichts, im Oktober zu verstehen. Er meinte damit die Frage, ob ein Urteil des EGMR vollstreckt werden soll, das Schadensersatzleistungen an ehemalige Yukos-Aktionäre in Höhe von 1,86 Milliarden Euro vorsieht. "Die heutige politische Situation ist anders als Mitte der 90er Jahre, als wir noch von einem Europa von Lissabon bis Wladiwostok sprachen", stellte Sorkin fest. Im Fall um den vom Kreml zerschlagenen Ölkonzern Yukos des im Exil lebenden Putin-Gegners und Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski hatten internationale Gerichte Russland zu Entschädigungen in Milliardenhöhe verurteilt.

Putin und Chodorkowski im März 2002 im Kreml (Foto: picture-alliance / dpa)
Putin und Chodorkowski im März 2002 im KremlBild: picture-alliance/dpa

Wird Russland den Europarat verlassen?

Beobachter vermuten, dass Moskau nun das neue Gesetz nutzen wolle, um die Umsetzung von Urteilen nicht nur im Fall Yukos, sondern auch bei zwischenstaatlichen Klagen, beispielsweise der Ukraine gegen Russland, zu umgehen. Ferner könnte das Gesetz ein erster Schritt zu einem Austritt Russlands aus dem Europarat sein. Der Kreml allerdings bestreitet, dass Russland den Europarat verlassen oder die Unterschrift unter der Europäischen Menschenrechtskonvention widerrufen wolle.

Dem Rechtswissenschaftler Luchterhandt zufolge ist ein solcher Schritt aber nicht ausgeschlossen. Forderungen nach einem Austritt aus dem Europarat seien in Russland schon laut geworden, was ernst zu nehmen sei. Doch zum jetzigen Zeitpunkt sei dies eher unwahrscheinlich. Russlands Vorgehen wertet Luchterhandt eher als Wunsch, besonders unangenehme oder teure Urteile des EGMR nicht vollstrecken zu wollen.