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Der Kampf gegen die kurdische Idee

Tom Stevenson (sp)9. September 2015

Zwei Monate vor den geplanten Wahlen nehmen die Kämpfe zwischen türkischen Regierungstruppen und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK an Intensität zu. Tom Stevenson berichtet aus dem Südosten der Türkei.

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Proteste gegen den Terror der PKK in Ankara
Proteste in Ankara gegen die PKKBild: picture-alliance/dpa/CITYPRESS 24/Berkin

Am 20. August versammeln sich türkische Spezialkräfte vor einem Krankenhaus in Silvan in der mehrheitlich kurdisch bevölkerten Provinz Diyarbakir. Unter gellenden Schreien ziehen sie die türkische Flagge wieder am Fahnenmast hoch. Mitglieder der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hätten sie zuvor heruntergeholt, behaupten sie.

Silvan hatte sich zuvor als unabhängige Stadt deklariert. Die türkische Regierung lehnte derartige Autonomiebestrebungen rundweg ab und ließ mit Yüksel Bodakci nicht nur einen jungen Politiker der prokurdischen Oppositionspartei HDP, sondern auch einen Bezirksbürgermeister der Stadt inhaftieren.

Silvan hatte ihr Autonomiebestreben erklärt, nachdem das türkische Militär in mehrheitlich kurdischen Städten im Südosten des Landes nach eigenen Angaben einzig gegen die PKK vorging. Auch in Silvan. Augenzeugen und Menschenrechtsgruppen bezeichnen das Vorgehen der Sicherheitskräfte als regelrechte Belagerung. Das erneute Hissen der Flagge war ihnen zufolge keine offizielle Zeremonie, sondern eine Machtdemonstration. Und ein Symbol für den wiederaufflammenden Kampf um die kurdischen Gebiete in der Türkei.

Die Lage in der Türkei ist heikel. Die Spannung in den südöstlichen Städten ist nahezu greifbar. Angriffe sowohl von, aber auch auf die hier stationierten türkischen Sicherheitskräfte sind an der Tagesordnung. Ein erstes Warnsignal war der schwere Anschlag auf kurdische Aktivisten im Grenzort Suruc. Er wurde der Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" zugeschrieben. Die PKK warf den türkischen Behörden aber Kollaboration mit dem IS vor und startete kurz darauf Vergeltungsmaßnahmen gegen türkische Sicherheitskräfte, die zudem Überlebende des Anschlags mit Tränengas beschossen und ihnen durch Absperrungen zunächst den Zugang zu medizinischer Versorgung versagt hatten.

Türkei Soldaten nach dem PKK Anschlag in der Hakkari Region. Foto: EPA/STR
Türkische Soldaten nach dem PKK Anschlag in der Hakkari-RegionBild: picture alliance/dpa

Doch der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, kam infolge einer Ankündigung, die man in Washington sehnlichst erwartet hatte: Ankara erklärte sich nach dem Anschlag in Suruc bereit, der von den USA angeführten internationalen Militärkoalition gegen den Islamischen Staat im Irak und in Syrien beizutreten. Im Juli begann die Türkei mit Luftschlägen. Allerdings nicht wie angekündigt auf Stellungen des IS. Die Flieger attackierten vornehmlich Stellungen der PKK im nordirakischen Kandilgebirge. Die PKK antwortete wiederum mit weiteren Attacken auf türkische Sicherheitskräfte, worauf das Militär Massenverhaftungen in kurdischen Städten und Dörfern durchführte. Schnell wurde der Kampf auf die Straße getragen. Mehr als 100 Ortschaften in der Region wurden zu militärischen Sicherheitszonen erklärt. Berichten zufolge kamen Dutzende Polizisten und Soldaten bei Angriffen ums Leben.

Schlechte Erinnerungen an einen Konflikt

Der Konflikt im Südosten der Türkei ist nicht neu. In den späten 1980er und den 1990er-Jahren hatte das türkische Militär bereits einen brutalen Feldzug gegen den kurdischen Widerstand unternommen. Am Ende standen mehr als 40.000 Tote zu Buche. Die PKK hatte den Aufstand gegen die Sicherheitskräfte gewagt, die im Gegenzug mehr als 3000 Ortschaften dem Erdboden gleichmachten. Mehr als 500.000 Menschen mussten ihre Heimat in den Kurdengebieten unter Zwang verlassen. Die kurdische Sprache wurde verboten.

Türkei Recep Tayyip Erdogan. Foto: AFP PHOTO/ADEM ALTAN
Entschiedener Gegner der PKK: Recep Tayyip ErdoganBild: Getty Images/AFP/A. Altan

Die aktuelle Einrichtung der militärischen Sicherheitszonen erinnere stark an vergangene Zeiten, sagt Yilmaz Kan. Er ist Direktor von "Göc-Der", einer Organisation, die sich um Binnenvertriebene kümmert. "In den 90er-Jahren hat die Armee kurdische Dörfer angegriffen. Jetzt sind es aber nicht mehr nur die kurdischen Dörfer, die angegriffen werden, sondern auch Städte, in die die Dorfbewohner damals vertrieben wurden. Wie Silvan", erzählt Kan, der gerade von einem Besuch aus Sirnak zurückgekehrt ist. Er habe gesehen, wie das türkische Militär Ackerland in der Provinz in Brand gesetzt habe - weil die Dorfbewohner die PKK angeblich mit Lebensmitteln versorgt hätten. Kan berichtet auch von Einwohnern, die in den 1990er-Jahren vom Militär vertrieben wurden und Anfang der 2000er-Jahre wieder zurückgekehrt sind. Nun habe ihnen das Militär erklärt, sie müssten ihre Heimat erneut verlassen. "Es handelt sich hier um Orte, in denen es keine Elektrizität und kein fließendes Wasser gibt. Die Bewohner werden mit Helikoptern und Kampfjets eingeschüchtert", sagt Kan im Gespräch mit der DW.

Ahmet Kara lebt in Silvan. Er war vor Ort, als die Militäroperation begann. "Die Soldaten und Polizisten umstellten die vier Stadtteile Selahattin, Tekel, Mescit und Konak. Dann gingen sie rein, mit gepanzerten Fahrzeugen, Granaten und Raketen. Die Straßen wurden verwüstet. Geschäfte, Häuser und Autos in Brand gesetzt. Menschen starben in den Straßen. Die Stadt wurde zerstört." Kara zufolge flohen Tausende Menschen aus Silvan. "Ich habe meine Kinder nach Mus geschickt [Anm. d. Redaktion: Provinz im Osten der Türkei], weil es hier zu gefährlich ist. Meine Frau und ich haben aber entschieden, zu bleiben. Silvan ist unsere Heimat."

Die Türkei in einer Spirale der Gewalt
Spirale der Gewalt - eine Straße in Silvan nach einem AnschlagBild: DISA

Zerschlagung einer Idee

Zwölf Gemeinden im Südosten der Türkei haben als Antwort auf die vermehrte staatliche Gewalt ihre Unabhängigkeit von der Regierung in Ankara verkündet. Die AKP-Regierung hat dies nicht einfach hingenommen und Dutzende Politiker der prokurdischen Parteien verhaften lassen. Ihnen wird vorgeworfen, das "Verfassungssystem" und damit die "Einheit des Staates" gefährdet zu haben. In den meisten anderen Ländern der Welt wäre die Inhaftierung eines einzigen Bürgermeisters ein nationaler Skandal - unabhängig von den Gründen. Hierzulande gab es kaum einen Kommentar zur Verhaftung von mehr als einem halben Dutzend Politikern.

Berichte wie diese und nur wenige Beweise für die tatsächliche Beteiligung am Kampf gegen den IS müssten es der türkischen Regierung eigentlich schwer machen zu behaupten, man sei wahrhaftig am Kampf gegen den IS interessiert. Und dass man die Lage nicht einzig nutze, um gegen kurdische Widerstandsgruppen vorzugehen. Doch genau so argumentiert türkische Regierung. "Einige halten die Einsätze gegen die PKK für einen Krieg gegen die Kurden", erklärte Premierminister Ahmed Davutoglu. "Aber das stimmt nicht. Die Operationen gegen die PKK haben nicht die kurdische Bevölkerung zum Ziel. Sie sind nicht gegen die Kurden gerichtet."

HDP- die neue Hoffnung

Mesut Aslan zufolge geht es nicht um Terrorismus. Unabhängig davon, was Davutoglu gesagt habe, gehe es um Politik, glaubt der Direktor der unabhängigen türkischen Menschenrechtsorganisation IHD. Bei den Wahlen im Juni konnte mit der HDP erstmals eine prokurdische Partei ins türkische Parlament einziehen. Die insgesamt 13 Prozent der Stimmen sammelte die HDP größtenteils im Südosten des Landes. In der Folge entstand eine Pattsituation, während der es der AKP nicht gelang, eine Regierungskoalition zu bilden. Präsident Erdogan kündigte schließlich Neuwahlen für den 1. November an. "Der Konflikt wurde als direkte Antwort auf das Wahlergebnis wieder angefacht", sagt Aslan im Gespräch mit der DW. "Die AKP hatte erwartet, eine absolute Mehrheit einzufahren. Stattdessen mussten sie zusehen, wie die Kurden in Form der HDP nun parlamentarisch repräsentiert wurden."

Türkisches Parlament Ahmet Davutoglu. Foto REUTERS/Umit Bektas
Premierminister Ahmet Davutoglu im türkischen ParlamentBild: Reuters/U. Bektas

Aslan glaubt, wie viele Kurden in der Türkei auch, dass die AKP-Regierung einen Krieg mit der PKK provozieren wollte. Ziel sei es, die Sympathie für die prokurdische Bewegung zu untergraben und damit die Stimmen für die HDP bei der kommenden Wahl unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken, die für den Einzug ins Parlament notwendig ist. "Die meisten Menschen verstehen nicht, dass es in diesem Konflikt nicht um Terrorismus oder die PKK geht. Wir wissen von vielen Fällen, in denen Militärs Kurden angegriffen und verhaftet haben, die nichts mit der PKK zu tun haben. Hier handelt es sich um einen Krieg gegen eine Idee. Eine Idee, die viele kurdische Türken eint: Das Recht auf politische Repräsentation und Selbstbestimmung."