Gruß aus Accra, Ghana | Afrika | DW | 12.06.2015
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Afrika

Gruß aus Accra, Ghana

In Ghana darf jeder sagen und schreiben, was er will. Trotzdem arbeitet die DW Akademie in dem westafrikanischen Land. Denn Meinungsfreiheit ist nur der Anfang, schreibt der lokale Projektmanager Aarni Kuoppamäki.

Eine kleine Zeitung schreibt unter Berufung auf anonyme Quellen, die Menschenrechtskommission sei pleite. Mitarbeiter des staatlichen Stromversorgers werfen dem Staatspräsidenten vor, Schuld an den täglichen Stromausfällen zu haben. Und Vertreter der Regierung und der Arbeitnehmer streiten über die Zahl der Arbeitsplätze, die im Zuge der Energiekrise verloren gehen. Dieser Maitag 2015 ist ein ganz normaler Tag in den ghanaischen Medien. Aussage steht gegen Aussage, Vorwurf gegen Vorwurf. Diese unreflektierte Meinungsvielfalt ist symptomatisch für Ghana.

In der Rangliste der Pressefreiheit belegt das westafrikanische Land Platz 22 von 180, noch vor den USA, Japan und Frankreich. Hier darf jeder sagen, was er will, und die Menschen tun es auch. Täglich, vor allem übers Radio, schicken kleine und große Leute ihre Meinung in den Äther. Aber Meinungsfreiheit ist nur der Anfang. Denn wahrscheinlich wird im Fall der klammen Menschenrechtskommission oder der gefährdeten Arbeitsplätze keiner die Fakten recherchiert haben, um zwischen gut begründeten und frei erfundenen Aussagen zu unterscheiden. Aufklärung steht gleichwertig neben Vertuschung und Propaganda. Fast alle sind sich einig, dass bei Infrastruktur und Bildung, im Gesundheitssystem und in der Wirtschaft vieles im Argen liegt. Aber Regierung und Opposition schieben sich dafür gegenseitig die Schuld in die Schuhe, und die Bevölkerung - rund ein Viertel kann nicht lesen und schreiben - bleibt im Dunkeln.

Fahrgeld oder Honorar

Eine der Ursachen: Geld regiert die Kommunikation. Viele Medien zahlen den Journalisten, die für sie arbeiten, nur ein geringes oder gar kein Gehalt. Die Journalisten erzielen ihr Einkommen vielmehr durch sogenannte "Soli", also Solidaritätsbeiträge, gezahlt von Veranstaltern von Pressekonferenzen oder Workshops, meist als Transportkostenpauschale. Oft übersteigt die Höhe des "Soli" dabei den Tagesverdienst. Er oder sie nimmt die Pressemitteilung oder Rede des Zahlenden dann auch meist als einzige Grundlage seiner Berichterstattung, denn Recherche ist unerwünscht. Ghana ist ein Land der verschwommenen Grenzen, in diesem Fall zwischen Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit.

Einseitige Schuldzuweisungen greifen zu kurz. Denn Medienhäuser stehen im Wettbewerb mit anderen, die ebenfalls bei den Personalkosten sparen; die Werbetreibenden wissen, dass nächstes Mal keiner kommt, wenn man heute keinen "Soli" zahlt; und die Journalisten haben kaum eine Alternative, um ihre Familien zu ernähren. Es sei ja keine Korruption, sagen sie, wenn die Werbetreibenden ihre Anerkennung für die Arbeit der Journalisten zeigten. Man müsse sich in seiner Berichterstattung nicht davon beeinflussen lassen, wer wie viel Soli zahlt. Aber Tatsache ist: Nichtregierungsorganisationen, die sich für gesellschaftlich relevante Themen engagieren, aber kein Geld für "Soli" zahlen, haben es schwer, ihre Botschaften in den Medien unterzubringen.

Egoismus oder Gemeinsinn

Nach einem deutschen Verständnis von Medienethik könnte man beim "Soli" von Korruption sprechen. Wenn diese in deutschen Medien regelmäßig als "Krebsgeschwür" bezeichnet wird, steht dahinter die Vorstellung, dass man Korruption wegschneiden kann. Das Fehlverhalten Einzelner kann korrigiert werden, wenn diese ausgetauscht werden. Aber im ghanaischen Kontext ist „Soli“ nicht nur eine Metastase, sondern eine Ausprägung des sozialen Miteinanders. Denn in weiten Teilen der ghanaischen Gesellschaft läuft das Zusammenleben nach dem Prinzip der sozialen Sicherung durch informelle Netzwerke: Ich helfe Dir, und Du hilfst mir.

In Deutschland ist das Sozialsystem staatlich organisiert: Kranken-, Unfall-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sollen die Bürger gegen alle Eventualitäten absichern. Und wenn eine Oder-Flut das Haus wegschwemmt, setzt die Regierung einen Nothilfefonds auf, der einen Großteil der Kosten auffängt. Wer aber in Ghana krank, arbeitslos oder alt wird, der muss auf Bekannte hoffen. Wenn die Oma stirbt, geht man von Haus zu Haus, sammelt Geld für die teure Beerdigung, und in der Regel kratzt man es irgendwie zusammen - auf die Bedarfsgemeinschaft ist Verlass. Wer helfen kann, der hilft, alles andere wäre gegen den Gemeinsinn.

Almosen oder Investition

Diese Solidarität ist überlebensnotwendig, denn die wenigsten Ghanaer haben finanzielle Reserven. Ein arbeitsloser Vater von fünf Kindern brachte es im Dezember zu landesweiter Bekanntheit, als er in einem Fernsehinterview auf die Frage, wie er seine Kinder versorge, antwortete: kpakpakpa, ein Begriff der selbst vielen Einheimischen damals noch wenig sagte. Was er meinte: improvisieren. In gebrochenem Englisch erklärte er, wie er es schafft sich durchzuwurschteln, ohne zu stehlen, für minimalen Gewinn Kleinigkeiten am Straßenrand verkauft. Wenn man morgens aufwache, müsse man bloß beten, denn "irgendjemand hat dein Geld in der Tasche". Das beschreibt die Lebenswirklichkeit vieler Ghanaer. Ein Rap-Song, der Ausschnitte aus dem Interview sampelte, machte den Ausdruck kpakpakpa zum Hit und zum Symbolwort für eine Überlebensstrategie.

Wie man mit überschüssigem Geld umgeht, erklärt ein Lehrer so: Du bekommst von irgendwoher 50 Cedi, umgerechnet etwa 12 Euro. Auf dem Heimweg begegnest du fünf Menschen, die pleite sind, und hilfst ihnen. Wenn du zuhause ankommst, hast du nur noch zehn Cedi übrig, dafür schulden dir fünf Menschen einen Gefallen, und wenn Du nächste Woche selbst was brauchst, helfen sie dir. Das passiert vor allem, wenn größere Ausgaben anstehen, zum Beispiel für Schulgebühren, -bücher, -uniformen oder Medikamente. Der große Spender gilt als guter Mensch, und dadurch bekommt Geld, das ihm ermöglicht, das Richtige zu tun, einen moralischen Wert.

Wenn der Priester im Sonntagsgottesdienst vor der versammelten Gemeinde fragt, wer 50 Cedi spenden kann, wird der Gebende gesegnet, ganz egal, woher das Geld kommt. Nach dem traditionellen Verständnis soll der Reichtum der Häuptlinge, die den Grundbesitz in Ghana verwalten, nach unten in die Bevölkerung sickern, und in diesem Sinne - eine weitere verschwommene Grenze - ist auch der heutige Politiker oder Geschäftsmann ein Häuptling. Trotzdem beschweren sich die Ghanaer über Korruption.

Verwaltung oder Besitz

Laut der renommierten Afrobarometer-Umfrage denken mehr als 80 Prozent der Ghanaer, dass Offizielle in Regierung, Polizei, Lokalverwaltung, Steuerbehörde, Gerichtsbarkeit, Parlament und Unternehmensleitungen an Korruption beteiligt sind. Doch auch hier wird mehr über korrupte Individuen geredet als über die Gesellschaft, in der diese Praxis gedeiht. Dabei ist der Zusammenhang offensichtlich. Im System der sozialen Sicherung durch informelle Netzwerke kann man sich kaum weigern, auszuhelfen, wenn einem die Mittel gegeben sind. Das gilt auch für Amtsträger mit Zugriff auf materielle oder immaterielle Ressourcen, sei es bei der Polizei, der Führerschein- oder Einwanderungsbehörde. Es ist sozial geboten, sich einzubringen. Der eigene Bruder kriegt die Hilfe vielleicht umsonst, seinen besten Freund wird es ein bisschen kosten, ein Fremder zahlt mehr.

56 Prozent der Ghanaer halten es laut Afrobarometer für vertretbar, einen gewählten Volksvertreter zu bitten, dass er zum Beispiel eine Krankenhausrechnung bezahlt. Der ehemalige Assistent eines Regionalministers erzählt, wie die Leute morgens vor dem Haus und mittags vor dem Büro des Ministers anstanden, um ihn um Geld zu bitten. Und er gab ihnen Geld. Am Wochenende sei er auf eine Handvoll Beerdigungen gegangen und habe sich jeweils mit 500 Cedi, also rund 125 Euro, an den Kosten beteiligt. Allein das übersteigt, über den Monat gerechnet, das offizielle Gehalt eines Ministers. Hier verschwimmt die Grenze zwischen dem Verwalten von Ressourcen und ihrem Besitz. Auch Journalisten haben Zugriff auf eine Ressource, nämlich Öffentlichkeit, und nach der Logik des Systems sollten sie dafür bezahlt werden, sie zu teilen.

Entwicklung oder Paradigmenwechsel

Als DW Akademie leisten wir einen Beitrag dazu, dass mehr Medienschaffende in Ghana und anderswo ihre Rolle und ihr professionelles Selbstverständnis reflektieren. Wir möchten, dass Menschen nicht nur ihre Meinung kundtun können, sondern auch Unterstützung von den Medien bekommen bei der Einordnung dessen, was andere sagen. Doch damit sich der Journalismus im Großen und Ganzen ändert, muss sich auch das soziale Miteinander ändern. "Soli" ist eine Frage der Mentalität und der damit verwobenen wirtschaftlichen Umstände. Je mehr Menschen soziale Sicherheit genießen, ohne auf andere Menschen und ihr Geld angewiesen zu sein, desto mehr rücken andere Werte und Ideale in den Vordergrund, zum Beispiel Wahrheit oder Selbstverwirklichung.

Ein sozialer Wandel, der das begünstigt, zeichnet sich bereits ab. Das Netzwerk der Dorfgemeinschaft und traditionellen Großfamilie wird allmählich abgelöst von der Kernfamilie samt Bekanntenkreis. Junge, gut ausgebildete Ghanaerinnen treiben den Wandel voran, denn die klassischen Bedarfsgemeinschaften bauen auf traditionelle Werte und Frauenrollen: Ehefrau, Mutter, Haushälterin, Verkäuferin und Kleinbäuerin. Wer sich in einem akademischen Beruf verwirklichen will, muss zunächst mit der Tradition brechen, die eine Heirat und Familiengründung mit Anfang 20 erwartet. Von 2000 bis 2010 stieg das durchschnittliche Heiratsalter der Ghanaerinnen von 22,3 auf 24,8 Jahre. Die ghanaischen Männer können sich freuen, denn für sie bedeutet das Leben mit der modernen ghanaischen Frau, die gutes Geld verdient, auch weniger kpakpakpa.


Aarni Kuoppamäki hat bei der Deutschen Welle volontiert und war bisher in 15 Ländern für die DW Akademie im Einsatz. Seit 2012 wohnt er in Ghana und koordiniert als lokaler Projektmanager ihre Aktivitäten in der Medienentwicklung. Die DW Akademie setzt sich in Ghana für eine stärkere Teilhabe der ländlichen Bevölkerung, einen verbesserten Zugang zu Informationen von öffentlichen Stellen und eine praxisorientiertere Journalistenausbildung ein.

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