"Wir erleben das Erwachen der Erinnerung" – Delegation aus Kolumbien besucht deutsche Erinnerungsstätten | Lateinamerika | DW | 09.05.2019
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Lateinamerika

"Wir erleben das Erwachen der Erinnerung" – Delegation aus Kolumbien besucht deutsche Erinnerungsstätten

Wie lässt sich die Auseinandersetzung mit einer konfliktreichen Vergangenheit gestalten? Auf einer Reise durch Deutschland beschäftigten sich kolumbianische Wissenschaftler und Journalisten mit historischer Aufarbeitung.

Delegationsreise der DW Akademie März 2019

Die kolumbianischen Wissenschaftler besuchten zahlreiche Erinnerungsstätten in Deutschland – so auch das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald.

Konflikte der Vergangenheit hinterlassen tiefe Wunden in der Gesellschaft – das verbindet Deutschland und Kolumbien, wo erst vor kurzem ein über 40 Jahre dauernder bewaffneter Konflikt zu Ende gegangen ist.

Wie behandeln die unterschiedlichen Generationen in den beiden Ländern die Vergangenheit? Welche pädagogischen Methoden sind erfolgreich? Und welche Rolle spielen dabei die Medien und der Journalismus? Eine Gruppe kolumbianischer Journalisten und Wissenschaftler besuchte auf Einladung der DW Akademie Deutschland, um sich mit diesen Fragen auseinander zu setzten und den deutschen Umgang mit der Vergangenheit kennen zu lernen. Beim  Besuch verschiedener Erinnerungs- und Bildungsstätten in Frankfurt, Berlin und Weimar kam die Gruppe mit Experten vor Ort ins Gespräch.

Ein neuer Blickwinkel schafft Verständnis

In der Ausstellung der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main betrachtet Andrés Restrepo die einfache Zeichnung eines Mannes. Wenn er eine spezielle Brille aufsetzt, die Teil der Installation ist, erscheint die Zeichnung als Stereotyp eines Nahost-Terroristen. Das wiederholt sich bei anderen ähnlichen Zeichnungen. Mit diesem Hilfsmittel werden Vorurteile, Diskriminierung und Rassismus thematisiert.

"Es begeistert mich, dass der Besucher die Möglichkeit hat, seine eigene Geschichte zu entwickeln, indem er mit den Elementen der Ausstellung interagiert", sagt Restrepo. Er arbeitet im Projekt "Hacemos Memoria" der Universidad de Antioquia im kolumbianischen Medellin, das mit Unterstützung der DW Akademie die Rolle des Journalismus in öffentlichen Debatten über die Vergangenheit erforscht und diese fördert.

Andrés Restrepo achtet bei den Besuchen der verschiedenen Erinnerungsorte in Deutschland vor allem auf die pädagogischen Methoden, die hier zur Aufarbeitung eingesetzt werden. "Die Herausforderung ist, die Besucher zum Nachdenken und zur Diskussion über aktuelle Themen wie Rassismus und Diskriminierung anzuregen. Mich interessiert, wie wir solche Methoden auf Themen, die uns in Kolumbien sehr bewegen, übertragen könnten."

Delegationsreise der DW Akademie März 2019

Andrés Restrepo arbeitet für das Projekt Hacemos Memoria.

Die Möglichkeit zur Diskussion erhält die Gruppe bei Gesprächen mit den jeweiligen pädagogischen Leitern der Einrichtungen. Elke Gryglewski, stellvertretende Direktorin und Leiterin der Bildungsabteilung im Haus der Wannsee-Konferenz, lädt die Gruppe in ihr Büro ein, zeigt Bücher und zieht Ordner mit Notizen aus dem Regal. Sie liest einen privaten Brief des Bruders ihrer Großmutter vor, aus dem deutlich wird, dass auch in ihrer eigenen Familie die Zeit des Nationalsozialismus noch lange nach dem Ende der Nazi-Diktatur verharmlost wurde.

Der Umgang mit den Akten

Ortswechsel nach Berlin: Die starre Architektur der ehemaligen Stasi-Zentrale empfängt die Besuchergruppe aus Kolumbien. Heute befindet sich hier das Stasi-Archiv, in dem offizielle Akten zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch den Staat dokumentieren – eine Grundlage für die historische Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Delegationsreise der DW Akademie März 2019

Sandra Arenas interessiert sich für den Umgang mit den Dokumenten des Stasi-Archivs.

Sandra Arenas, Professorin an der Interamerikanischen Schule für Bibliothekswesen der Universidad de Antioquia interessiert sich für den Umgang mit den Dokumenten des Archivs. Sie möchte wissen, wie die Informationen verarbeitet werden, welche Regeln es für den Zugang der Nutzer gibt und wie die Dokumente digitalisiert werden.

Das Interesse der Professorin ist eng verknüpft mit der aktuellen Situation in Kolumbien: Ein jahrzehntelanger bewaffneter Konflikt zwischen Staat und verschiedenen illegalen Gruppen hat zu traumatischen Folgen für die Zivilbevölkerung geführt.

Die vielfachen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte sind noch nicht umfassend aufgeklärt. Die historische Aufarbeitung stößt auf den Widerstand gesellschaftlicher Machtgruppen und auch die Umsetzung des 2016 unterzeichneten Friedensvertrags mit der ehemaligen FARC-Guerilla kommt nur schleppend voran.

Ein Archiv könnte auch in Kolumbien helfen, den Friedensprozess voranzutreiben, meint Sandra Arenas. "Aber in Kolumbien haben wir mit diesem Thema noch nicht begonnen. Es gibt nicht einmal eine Diskussion über ein Archiv. Das steht noch an."

Die schmerzhafte Vergangenheit

Besonderen Eindruck hinterlässt bei der Gruppe ein "postkolonialer Spaziergang" durch Berlin, der zeigt, dass es auch in Deutschland noch Lücken in der Vergangenheitsaufarbeitung gibt. So sind die Verbrechen der Kolonialzeit den meisten Deutschen bis heute unbekannt. Hinweise auf diese Zeit sind jedoch in ganz Berlin zu finden. Die ethnologischen Sammlungen der Berliner Museen zeigen Raubkunst und Kulturerbe ehemaliger Kolonien.

Auch Straßennamen im "afrikanischen Viertel" erinnern an die Kolonien und die Täter aus dieser Zeit. Zum Beispiel die Petersallee, benannt nach dem rassistischen Begründer der Kolonie Deutsch Ost-Afrika, Carl Peters, oder die Schrebergärten der "Dauerkolonie Togo", gegründet 1939 und benannt nach Deutschlands "Musterkolonie" (1884 - 1920). Am Tag des Spaziergangs ist in einem der Gärten die alte Reichsflagge gehisst.

"Das ist keine Ausnahme", meint Abdel Amine Mohammed, der die Gruppe durch das Viertel führt. Die Aktivisten von "Berlin-Postkolonial" begannen ihre Arbeit 2004, seither geht es langsam voran. In der Müllerstraße Ecke Otawistraße steht inzwischen eine Informationstafel zur Geschichte des Afrikanischen Viertels. Das einstige Gröbenufer, benannt nach dem Sklavenhändler Otto Friedrich von der Groeben, trägt jetzt den Namen der afrodeutschen Menschenrechtsaktivistin May Aymin.

Eine Erfahrung ganz anderer Art bietet der Besuch der Gedenkstätte Buchenwald in der Nähe von Weimar. Auch wenn alle schon über Orte wie diesen gelesen oder Filme gesehen haben, so ist es etwas anderes, selbst durch das Tor auf den großen Platz zu gehen, der Teil des Geländes ist, auf dem mehr als 56.000 Menschen an den Folgen von Folter, medizinischen Experimenten und Auszehrung starben. Der Gedenkstätte gelingt es, mit persönlichen Fundstücken und den Gedenkräumen einen persönlichen Zugang zu diesem Ort herzustellen. Für die Gruppe bleibt der Eindruck der menschlichen Wärme, als sie alle zusammen ihre Hände auf die auf 37 Grad beheizte Gedenktafel für die KZ-Opfer legen.

Podiumsdiskussion im Ibero-Amerikanischen Institut

Beim letzten Programmpunkt des Deutschlandbesuchs wirken die Erlebnisse der Woche nach. Die  Podiumsdiskussion "Die schmerzhafte Vergangenheit erzählen. Deutsch-kolumbianischer Erfahrungsaustausch" findet im Ibero-Amerikanischen Institut Berlin statt. Viele Fragen aus dem Publikum beziehen sich auf die aktuelle Situation in Kolumbien, die Rolle des Journalismus und die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte.

"Wir arbeiten mit Erinnerungen, die formbar sind, sich verändern, und die auch beschädigt werden können", sagt Patricia Nieto, Journalistin und Leiterin des Projekts "Hacemos Memoria". "Die Version, die eine Gesellschaft von ihrer Geschichte erzählt, kann sich in kurzer Zeit verändern. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist kein starres Konzept. Es ist, als ob wir uns darauf einigen würden, eine Schilderung zu akzeptieren, die uns dann erlaubt eine neue Art der Beziehung zur Geschichte aufzubauen."

Die Kulturwissenschaftlerin Anne Huffschmid, die zu Gewalt und Erinnerung in Lateinamerika forscht, meint: "Den Konflikt nach dem Friedensabkommen in Kolumbien 'Postkonflikt' zu nennen ist, als ob es etwas Abgeschlossenes wäre und alles gelöst wäre. Aber das ist nicht so. Solange die Aufarbeitung läuft, ist der Konflikt noch nicht vorbei."

Adriana González, Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universidad de Antioquia, betont die Notwendigkeit einer symbolischen Wiedergutmachung für die Opfer. "Dazu gehört auch die Erinnerung. Und dabei sollten wir auf die Vielfalt der Erzählungen achten. Es geht weder um eine offizielle Erinnerung noch um eine allein gültige Wahrheit."

"Wir erleben im Moment in Kolumbien das Erwachen der Erinnerung", sagt Patricia Nieto zum Abschluss der Diskussion und beim Austausch mit dem Publikum. "So wie das Wasser im Berg erst aus kleinen Quellen entspringt, trägt jeder Bach eine eigene Geschichte, die sich dann zu einem Fluss zusammenfügen."

Das Projekt "Hacemos Memoria" wird seit 2014 von der DW Akademie mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt.